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Boulevards, Banlieues #1
(Bucharest/Paris, from the series: Boulevards, Banlieues and Other Samples of Decorated Histories), 2007

Boulevards, Banlieues and Other Samples of Decorated Histories

Sabine Bitter / Helmut Weber »


Das wesentliche Faktum erfassen: Recent Geographies

Jeff Derksen


Mit anderen Worten: Gewöhnlich wird nur das Problem betrachtet, wie der Kapitalismus mit bestehenden Strukturen umgeht, während das relevante Problem darin besteht, wie er sie schafft und zerstört.

Joseph Schumpeter


Der umstrittene österreichische Ökonom Joseph Schumpeter beschrieb „das für den Kapitalismus wesentliche Faktum“ mit dem widersprüchlich-poetischen Begriff „schöpferische Zerstörung“: für Schumpeter ist die „schöpferische Zerstörung“ ein Prozess, der „unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft“. [1] Schumpeter wollte mit dem Begriff der Tendenz der Ökonomen entgegenwirken, den Kapitalismus nur in Teilaspekten und nicht in seiner Gesamtheit – als Entwicklungsprozess – zu erfassen. Er führte die „schöpferische Zerstörung“ aber auch ein, um den Kapitalismus stärker unter historischeren Gesichtspunkten zu analysieren – Ökonomen, so sagte er, „akzeptieren die Daten der momentanen Situation, als ob diese keine Vergangenheit und keine Zukunft hätte“. [2]

Kurioserweise, angesichts dieser Betonung des Zeitaspekts der kapitalistischen Entwicklung (einer Entwicklung, die naturgemäß ungleich verläuft), spekulierte das Wall Street Journal kürzlich, dass dies der Augenblick Schumpeters sei, dass er der Mann sei, an den man sich heute halten müsse, „weil sich Schumpeter mehr als jeder andere moderne Ökonom mit dem beschäftigte, was man vielleicht als die Fragilität des Kapitalismus bezeichnen könnte“. [3] Auch wenn Schumpeters Werk für die Wirtschaftsapologeten von heute durchaus attraktive Seiten hat, blendet die Aussage, Schumpeter habe einfach nur die Fragilität des Kapitalismus erkannt, doch einen problematischeren Aspekt seines Werk aus, nämlich den, dass sich der Kapitalismus schöpferisch selbst zerstört, dass er an den eigenen Fundamenten rüttelt. Ganz im Einklang mit dem organischen Charakter seiner Metapher prophezeite Schumpeter daher auch die Ersetzung des Kapitalismus durch ein anderes System: „Der kapitalistische Prozess zerstört nicht nur seinen eigenen institutionellen Rahmen, sondern schafft auch die Voraussetzungen für einen anderen. Zerstörung ist vielleicht letzten Endes nicht das richtige Wort. Vielleicht hätte ich von einer Wandlung sprechen sollen. Das Ergebnis des Prozesses ist nicht einfach eine Leere, die mit irgend etwas, was gerade auftaucht, ausgefüllt werden könnte; Dinge und Seelen werden in solch einer Weise umgewandelt, dass sie der sozialistischen Form des Lebens zugänglicher werden.“ [4]

Jenseits der aktuellen Wirtschaftskrise sind Schumpeters poetischer Begriff und sein prozessuales Modell der Zerstörung und des Wandels heute jedoch gut geeignet, um über Städte und ihre Repräsentation zu sprechen. Urbane Territorien und Städte stehen im Zentrum des globalen Wandels, und die Intensivierung der Globalisierung während der letzten 35 Jahre brachte auch eine schöpferische Zerstörung von Stadtvierteln, Gemeinschaftseinrichtungen und den vielfältigen Texturen urbanen Lebens mit sich. Mag die Globalisierung zur Öffnung der Welt und zur Vertiefung nationaler wie lokaler Bindungen, oder auch zur Aushöhlung einer rein staatlichen Politik geführt haben, ihre Transformationskraft konzentriert sich vor allem auf Städte, weshalb sie ihren dramatischen Zusammenhang auch in den Texturen und Rhythmen des Alltags und der Produktion urbanen Raums findet. Sabine Bitters und Helmut Webers neueste Fotocollagen halten das Paradoxon entstehender oder neuer Stadtlandschaften fest, die nicht neu erbaut, sondern im Zuge der urbanen Wandels durch ökonomische Expansion und schöpferische Zerstörung neu geformt werden. Diese Bilder „neuerer Geografien“, wie sie Bitter/Weber bezeichnen, entspringen zwei Prozessen: den großen Expansionen und Kontraktionen, den fortwährenden Artikulationen und Desartikulationen sowie den wechselnden Spekulationen, die das globale Kapital auf die Städte fokussiert; und Bitter/Webers ästhetischer Praxis, Städte und Räume als Prozesse darzustellen.

Die feine Verschiebung, die Bitter/Webers Arbeiten erfassen, ist die, dass offensichtlich nicht nur die führenden Finanz- und Medienbefehlsstände „globale Städte“ sind, sondern dass auch periphere (an der Peripherie des Gesichtskreises der globalen Phantasie, nicht aber des globalen Kapitals gelegene) Städte wie Belgrad und Vancouver und die eigentlichen Randbezirke dieser Städte (die Banlieue von Paris oder die Staatsmoderne von Neu-Belgrad) zum Schauplatz neuer und notwendiger Formen der Selbstverwaltung und zu Laboratorien pfiffiger Akkumulationsstrategien geworden sind: in diesen Städten reiben sich Ökonomie und Alltag in einer Art und Weise, die Schumpeters schöpferischer Zerstörung eine reale Textur gibt. Die in Recent Geographies dargestellten intensivierten Städte – Neu-Belgrad, Bukarest, Vancouver, Paris, Detroit und Los Angeles – verschieben und verändern sich mit der neoliberalen Ankurbelung des Wettbewerbs um Raum und das Recht auf die Stadt: es sind (und das ist keineswegs paradox) Städte, die auf je eigene, schöne, transitorische und komplexe Weise deutlich texturiert sind. In der urbanen Textur solcher Städte lagern sich die Schichten ab, die ihr durch die Globalisierung – und die drastische Umgestaltung der Stadt im globalen System – auferlegt werden, während im Stadtraum noch immer die Schichten vergangener Planung und die Vektoren vergangener Lebensformen (Kultur) nachschwingen. Darüber schwebt schon die Textur der Zukunft, die davon erzählt, welche Form die Stadt annehmen wird, welche Kämpfe gewonnen, welche Gelegenheiten ergriffen werden (und auf diese Textur hatte auch Schumpeter ein Auge geworfen).

An diesen global-urbanen Texturen reibt sich nun Recent Geographies mit räumlich komplexen Fotocollagen postmoderner Großarchitektur, einer Videoarbeit über den von Henri Lefebvre 1986 erstellten Stadtentwicklungsplan für Novi Beograd (Neu-Belgrad) und Fotos von Interieurs der früheren Staatsgebäude in Neu-Belgrad. [5] Recent Geographies geht von der Voraussetzung aus, dass Geografien und ihre Repräsentationen niemals terra firma, niemals feste Orte oder Bilder sind, sondern dass es sich dabei um Schauplätze und Ereignisse handelt, die von Bürgern, die mit ihren Alltagsaktivitäten ständig Raum und soziale Beziehungen produzieren, her- und umgestellt, konstruiert und dekonstruiert, erschaffen und zerstört werden. Gleichzeitig wird das Ereignis des urbanen Raums aber auch durch in den Alltag eingebettete globale Vektoren produziert – Vektoren, die sich in die urbane Gouvernementalität, urbane Eigentumsverhältnisse und mögliche Formen urbaner Demokratie und Bürgerschaft einschreiben.

Die neue zusammenhängende Werkgruppe beginnt mit Architekturbildern und urbanen Raumansichten aus dem postmodernen Paris, Downtown Los Angeles, der Staatsarchitektur Rumäniens, Vancouver, der repräsentativen postmodernen Stadt Kanadas, und aus Detroit, einer Stadt, in die sich die Spuren der Rassen- und Klassenverhältnisse und der Verwerfungen des Neoliberalismus so tief eingegraben haben wie kaum irgendwo. Auf der Grundlage zweier Logiken – der Logik der architektonischen Form und der Logik der Räumlichkeit kapitalistischer Investitionstätigkeit – beschäftigen sich Bitter und Weber vor allem mit der postmodernen Architektur scheinbar unvereinbarer urbaner Territorien und Wirtschaftssysteme: dem vom sozialistischen Jugoslawien entworfenen und produzierten Stadtraum, den von schweren Unruhen sozial Entrechteter erschütterten Sozialsiedlungen in den Pariser Randbezirken, dem hochmediatisierten Stadtkern von Los Angeles, dem großen Boulevard von Bukarest, der kosmopolitischen Pazifikstadt Vancouver und dem durch das Renaissance Center vertretenen unsicheren Zentrum von Detroit.

Seltsamerweise erscheint die Postmoderne in diesen „neueren Geografien“ der Globalisierung und des neoliberalen Raums als ein Stil, der ganz verschiedene, ja sogar gegensätzliche Wirtschaftssysteme und Räume übergreift – ein Stil, der zur Repräsentation ganz verschiedener Sozial- und Raumlogiken und gesellschaftlicher Visionen herangezogen wurde. In einer großen Collage geht ein großer Bukarester Boulevard nahtlos in Ricardo Bofills soziales Wohnbauprojekt Abraxas an der Banlieue von Paris über (ein Gebäude, das in Terry Gilliams dystopischem, vor einer total verwalteten Moderne warnenden Film Brazil eine zentrale Rolle spielte). In einer anderen Collage verschmilzt der Genex-Turm, ein hyperpostmodernes Einfallstor zum postsozialistischen Belgrad und Sitz einer einst staatlichen Import-Export-Gesellschaft, mit Moshe Safdies neuer öffentlich-privater Bibliothek von Vancouver, einem Gebäude, das selbst wiederum eine postmoderne Collage aus römischem Kolosseum, Einkaufskomplex und Bibliothek ist. All diese – in einem gleichermaßen nahtlosen wie verstörenden Collageverfahren – miteinander verbundenen Orte befinden sich einem Übergangszustand, versuchen mit der Öffnung des staatlichen oder städtischen Raums durch die Globalisierung und ihre Verwaltungssoftware, den Neoliberalismus, zurechtzukommen.

Um die Komplexität der schöpferischen Zerstörung zu erfassen und diesen Prozess darzustellen, reflektiert Recent Geographies über die Postmoderne als flexiblen, anpassbaren, auf verschiedene Stadtbilder, Planungsvorhaben und öffentliche Ziele anwendbaren Stil, aber auch als Stil, der nicht nur einer einzigen Logik folgt. Das deckt sich mit Frederic Jamesons berühmter Aussage, dass die Postmoderne mehr als ein autonomer Stil sei, dass sie vielmehr durch die ökonomischen und sozialen Strukturen des Kapitals dynamisch erzeugt würde und eigentlich die „kulturelle Logik des Spätkapitalismus“ darstelle. [6] Bitter/Weber komplizieren und spazialisieren diese Formulierung, indem sie die strukturellen Ähnlichkeiten postmoderner Architektur in Städten und Architekturprojekten aufzeigen, die nicht derselben totalen Soziallogik oder Ökonomie unterliegen. Die Postmoderne – wie sie uns in Recent Geographies begegnet – enthält jetzt auch Reste anderer Logiken – in Rumänien, im ehemaligen Jugoslawien, im sozialen Wohnbau von Paris, in den öffentlich-privaten Räumen Vancouvers. Statt einen Architekturstil zum Kennzeichen einer ökonomischen und kulturellen Logik zu erklären, zeigen Bitter/Weber mit ihrem Collageverfahren und ihrer Recherche (der sorgfältigen Auswahl von Gebäuden und Orten), wie die kulturelle Logik der Architektur selbst neu produziert wird, wie sie ihre sozialen und räumlichen Bedeutungssedimente in die momentane Situation der Globalisierung hineinträgt.

Die Postmoderne hört damit auf ein historisches Pasticcio zu sein und wird wirklich historisch – also genau zu dem, wovon sie sich absetzte und was sie angeblich ablehnte. Gleichzeitig aber scheint die Postmoderne – trotz ihrer Verdammung durch die Architekturkritik und ihrem theoretischen Niedergang – auch eine Wiederkehr zu erleben – als Logik der neoliberalen Globalisierung, getarnt als „populistische Rhetorik“. Warum ist die Postmoderne ein so häufig adaptierter Stil für die Neugestaltung von Städten, ihre schöpferische Zerstörung, die Überlagerung einer städtischen Lebensweise durch eine neue (eine, die oft von oben aufgepfropft wird, ohne große Diskussion oder Bürgerkonsultationen)? Wie hat die Postmoderne als Architekturstil ihre vernichtende Kritik überlebt, um nun ganz selbstverständlich ihren Platz zu behaupten? In Städten wie Vancouver ist das Stadtbild von postmoderner Gleichförmigkeit geprägt, es wird bestimmt von einer Logik des Grundeigentums, die ihren Ausdruck in einer generischen Form postmoderner Architektur findet, die durch einfallslose Repräsentationen dessen historisiert, was schöpferisch zerstört wurde (Bauten mit emblematischen Bäumen als Abschluss, Türmen mit segelförmigen Zierspitzen, Bauten mit „nachhaltiger“ Natur auf dem Dach, etc.). Die geschmückten Außenhäute entschädigen für die inflationären Preise (als könnte ein Mehr an äußeren Verweisen einen Preis rechtfertigen) und die verkürzenden historischen Referenzen oder das Gepäck an Referenzen entschädigen für das, was in der Stadt verdrängt wird (Ornamente, Kunst im öffentlichen Raum und Denkmäler sind sichere Hinweise auf diesen Vorgang). Obwohl irgendwie global zusammenhängend, ist diese Postmoderne aber nicht einfach identisch, wie Recent Geographies zeigt. Mit der Collage als Forschungsmethode – als Mittel zur Sichtbarmachung der schöpferischen Zerstörung – zeigen Bitter und Weber exakt die Spannung zwischen Differenz und Gleichheit in globalisierten Städten, von der Neu-Belgrader und Bukarester Postmoderne, über die Restrukturierung Detroits bis hin zu den emblematischen Ansichten von Los Angeles und der volatilen Peripherie von Paris. Diese räumliche Komponente besitzt als Gegenwartsknäuel auch eine zeitliche Dynamik, die sich, von Jamesons „stets historisieren“ bis zu Schumpeters Prozess des historischen Wandels, in der Raumlogik dieser Fotocollagen niederschlägt. So überschneiden sich in diesen Arbeiten Forschung und Ästhetik, um die Prozesse darzustellen, durch die Städte geformt werden – und Prozesse sind bekanntlich besonders schwer zu erfassen.


Eine ältere Version dieses Textes entstand ursprünglich für die Ausstellung Recent Geographies von Sabine Bitter / Helmut Weber in der Galerie Grita Insam, Wien, März – Mai 2007


Aus: Sabine Bitter & Helmut Weber, RIGHT, TO THE CITY, Fotohof edition, Salzburg, 2009 (S. 56 – 60) Übersetzung: Dawn Michelle d´Atri


Anmerkungen

[1] Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7. erw. Aufl., Tübingen et al.: Francke, 1993, S. 137f.

[2] Ibid., S. 138.

[3] Carl Schramm, „Schumpeter’s Moment“, in: The Wall Street Journal, May 29, 2009.

[4] Schumpeter, op. cit., S. 262.

[5] Bitter/Weber produzierten ein Künstlerbuch, das den Lefebvre-Text komplett wiedergibt, flankiert von Essays von Zoran Erić, Ljiljana Blagojević und Klaus Ronneberger, und mit einem Vorwort von Neil Smith: Autogestion or, Henri Lefebvre in New Belgrade. Vancouver/New York: Fillip Editions and Sternberg Press, 2009.

[6] Fredric Jameson, Postmodernism or, the Cultural Logic of Late Capitalism. Durham: Duke University Press, 1991.



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