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grafisches Element

Begegnungen kritischer und zeitgenössischer Kunst der  1990er-Jahre bis heute: Türkei

HerausgeberInnen: Aslı Çetinkaya und Merve Ünsal »


Übersetzung aus dem Englischen: Dörte Eliass

Es besteht generelle Übereinstimmung darüber, dass die zeitgenössische Kunst in der Türkei, die in den frühen 1990er-Jahren einen entscheidenden Aufschwung erlebte, heute über eine relativ etablierte Struktur verfügt, mit ihren Institutionen und einem wachsenden Markt. Es ist jedoch auch oft zu hören, dass die politische und soziale Ader, die viele Praktiken und Vorstellungen von Gemeinschaft und Zusammenarbeit prägte, offenbar der heutigen Kunstszene im Zuge der Industrialisierung abhandengekommen ist. Die hier versammelten Texte, die diverse Sichtweisen des Vergangenen und Zukünftigen präsentieren, lassen sich als kritische Untersuchung des Weges der zeitgenössischen Kunst in der Türkei in den letzten 20 Jahren verstehen.

Wie es bei jeder Art von zeitlichen und räumlichen Demarkationslinien der Fall ist, erheben sich bei dem Versuch, die Koordinaten der Kunst der 1990er-Jahre in der Türkei abzustecken, Fragen über erzählerische Affinitäten, Beziehungen, Nähen, Interaktionen, Abneigungen und die Unmöglichkeit, eine klare Geschichte herauszubilden. Diese Ausgabe von Open Systems beginnt damit, die Unmöglichkeit einer deduktiven Argumentation anzuerkennen, wenn wir über einen Ort sprechen, dessen Kontemporanität von Störungen gekennzeichnet ist. Indem sie diese Diskontinuität berücksichtigen, untersuchen die AutorInnen dieser Ausgabe relevante Themen, die eine Kollation von Vorgangsweisen ans Licht bringen, eine horizontale Synergie, die sich scheinbar im Herzen der 1990er zu befinden schien. Zudem ermöglichen sie uns, unterschiedliche Wege und Perspektiven kennenzulernen, wie mit dem Aspekt der Historisierung umgegangen werden kann.

Die Texte der KünstlerInnen Burak Delier und Elmas Deniz scheinen eine Debatte aufzugreifen, beide präsentieren einen geschichtlichen und kritischen Blick auf jene Periode. Delier bietet uns eine Definition dessen an, was er meint, wenn er über eine bestimmte Periode in der Geschichte spricht, und gruppiert wichtige Veränderungen der Produktionsmodi und der Verbreitung wie auch in Beziehungen zusammen, die sich seit den 1990er-Jahren vollzogen haben. Deniz, mit einem subjektiveren Bericht über die 2000e-Jahre, lädt uns ein, einen bestimmten Trend der Instrumentalisierung in der Kunst wahrzunehmen und zu diskutieren. Sezgin Boyniks erneutes Lesen der Werke von H. Alptekin – eines der Schlüssel- oder entscheidenden Persönlichkeiten in der zeitgenössischen Kunst der Türkei, dessen umfassendes Archiv nun selbst Gegenstand von Forschung und Ausstellung ist – und von A. Öğüt basiert auf seiner spekulativen Argumentationsline des ,sozialen Surrealismus’. In einer weiteren, längeren Version seines kunstphilosophischen Textes entwickelt Boynik seine These eines sozialen Surrealismus und schlägt einen anderen Weg ein, indem er erklärt, die von der Soziologie bereitgestellten kognitiven Mittel außer Acht zu lassen und sich konzeptionellen Methodologien zuzuwenden, die in der Kunst selbst immanent sind. In diesem Zusammenhang wirft er Problematiken auf, die auch unserem eigenen Versuch einer retrospektiven Diskussion eine wichtige Dimension hinzufügen. So artikuliert er die Fragestellung, wenn Kunst eine Transformation (Dekonstruktion) gewisser sozialer ad-hoc Dynamiken darstelle, ob es noch immer möglich sei, über die Gültigkeit von Kunst zu reden, nachdem diese Dynamiken ihre Wirkung verloren haben? Auch Marx äußerte sich ähnlich und fragt, warum Kunst noch immer eine Bedeutung habe, sogar wenn die sozialen Dynamiken, die die Kunst bestimmen, längst verloren und vergangen seien.

İlhan Ozan und Berin Gölönüs Texte führen Beispiele an, wann und wo das Archiv und die Dokumentation – von Kunst und Architektur – vor Kurzem als zentrales künstlerisches Thema und Praxis für Kunstinstitutionen und KünstlerInnen in Erscheinung traten. Gölönü schreibt über ein architektonisches Forschungsexponat, das über dieses professionelle Feld hinausreicht und sucht nach Hinweisen über die Beziehung zwischen der Modernisierung der Türkei und der Manipulation natürlicher Ressourcen auf dem Weg der Transformation von Geografie. Ozan fokussiert die Ausstellung „It Was A Time Of Conversation’”, die Dokumente dreier Gruppenausstellungen von der Mitte der 1990er-Jahre zeigte, die alle das besondere Merkmal eines neuen Ansatzes zur kuratorischen Praxis und zum Ausstellungsmachen anbieten. Und vielleicht von diesen Themenstellungen ausgehend oder an diese anknüpfend, konzentriert sich Özge Ersoys Text auf einen besonderen Fall, der illustriert, auf welche Dispositionen Institutionen achten sollten, wenn sie mit einer noch zu schreibenden Vergangenheit umgehen.

Wahrnehmung oder Zustand?

Als interessante Schlussreferenz und um neuen Boden für Diskussionen zu bieten, werfen wir noch einen kurzen Blick auf Bang Larsens Text ,Long Nineties’, nachzulesen unter (http://www.frieze.com/issue/article/the-long-nineties/). Auch wenn er nicht Teil dieser Ausgabe von Open Systems ist, scheint die Argumentation des Textes gut zu den Themen zu passen, die hier erwähnt werden. Möglicherweise weist er auf eine potenzielle Antwort hin oder hinterfragt etwas, oder definiert eine bestimmte parallele Dynamik für all jene, die oft ein gewisses Unbehagen oder Verwirrung angesichts der schnellen Institutionalisierung äußern, die auf eine kurze Periode ,unbeschränkter Kritikalität und Produktivität’ bis in die frühen 2000er-Jahre folgte. Bang Larsen verweist auf die beiden definierenden Richtungen des Jahrzehnts, von dem er sagt, dass es noch nicht zu Ende sei; zunächst habe die Kunst eine ,soziale Wende’ vollzogen; im Hinblick auf die Praktiken – partizipatorisch, kollektiv usw. – und Themen, und zweitens habe es Veränderungen in den Kunstmärkten und Zirkulationsmodi gegeben, die auch eine energetische Sozialisierung rund um alle Ebenen der Beteiligung bedeuteten. Der Autor argumentiert, dass vor allem das Soziale als konstituierendes Thema der zukünftigen Jahrzehnte den passenden Boden für die schnelle Institutionalisierung des Feldes geboten habe. Er wiederholt Foucaults Beschreibung von Neo-Liberalismus als „soziologische Regierung”, in deren Modell die Bereiche des Sozialen und Kulturellen – weniger die Wirtschaft – aus Gründen des Wettbewerbs und Handels mobilisiert würden. Hier ließe sich sicher argumentieren, dass die Arbeiten und Praktiken, die sich um eine Verbindung mit dem Sozialen bemühen, die zunehmend nach den 1990er-Jahren in Erscheinung traten und die Vorrangstellung der Infrastruktur der Kunst, der Medien und sozialer Aktivitäten keine widersprüchlichen Aspekte darstellen, sondern vielleicht eher strukturell miteinander verbundene Formationen sind.



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