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Lernen durch Tanzen.

Elmas Deniz »


Übersetzung aus dem Englischen: Dörte Eliass

Heute zeigte mir mein Freund ein Video – von dem er in einem Interview mit Julian Assange und dem Google-CEO Eric Schmidt [1] erfahren hatte –, gedreht 1971 unter der Regie von Robert Alan Weiss für das Department of Chemistry der Stanford University. Eine epische Erzählung über Proteinsynthese, in der einhundert Hippie-StudentInnen zu sehen sind, wie sie Musik machen, tanzen, um eine biologisches Event darzustellen. Laut Assanges Argumentation wäre die Realisierung der gleichen Performance als Bildungsmethode heute in Stanford aufgrund des Konservatismus nicht möglich – dieser veränderte die Interessen in den späten 1970er-Jahren, als Geldverdienen zum vordinglichen Ziel wurde. Er sagt: „Menschen, die altruistisch waren und sich nicht so sehr um Finanzen und Fiskalisierung kümmerten, haben einfach an Macht verloren im Vergleich zu jenen, die dies nicht waren und ihren Weg nach oben im System erarbeiteten. Bestimmte Verhaltensweisen waren also negativ besetzt, andere wurden verstärkt.”

Ein Freund sagte vor Kurzem zu mir: „Ich lese Bücher jetzt nicht mehr ausschließlich, um mich zu entspannen, sondern ich lese sie auf opportunistische Weise – ich denke darüber nach, ob mir das Gelesene nützen wird, was ich herausziehen kann, ob ich es irgendwo verwenden kann.”

Kunst war damals kein wirklicher Beruf, heute ist er ein sehr reizvoller.

Der neo-liberale Kapitalismus ist tief in allen Lebensbereichen zu spüren. KünstlerInnen versuchen, diesen Sets von Normalisierungen zu widerstehen und sie in ihren künstlerischen Praxen zu reflektieren (als Inhalte, Themen usw.). Als (soziale) „Kultur“ jedoch scheint mir die Kunstkultur mit dem gleichen PR-Strom einherzugehen. Als Künstlerin, die meistens in selbst organsierten Vereinigungen arbeitete (und sich für diese interessierte), ist diese innere Soziokultur wichtig, denn sie erzeugt wirkliche Dynamiken, gibt den Dingen Form, sorgt für fruchtbaren Boden und wird zu einer namenlosen Qualität. Daher sehe ich kein Problem, wenn ich aus dieser Perspektive spreche – gleichsam eine mit Stil selbst produzierte Anthropologie. (Welche Beziehung haben wir zueinander? Der Produktionsmodus, Positionen von KünstlerInnen, Verhaltensweisen.) Der Rest ist dann sowieso von HistorikerInnen und AkademikerInnen zu erzählen.

Hüseyin Bahri Alptekin besuchte Izmir, wo ich damals lebte. Es war im Jahr 2000 – sein „Bunker-Projekt“ ließ ihn nicht los und Denkmäler mit Pferden. Zusammen machten wir Fotos an einem der Plätze in Izmir. Ich war enthusiastisch und wollte etwas in der Stadt initiieren, mit dem geringen Wissen, das ich damals von der Kunstwelt hatte. In diesen Jahren blühte das Artist’s Journal auf und eine Reihe von RG (Resmi Görüş) [2] wurde publiziert und beide waren die einzig verfügbaren Informationsquellen für Kunst in Izmir. Die „Platform CAC“ befand sich im ersten oder zweiten Jahr. Hüseyin wurde sofort zu meinem Held und stand für alle Qualitäten eines Denkers, Initiators, Agenten und großen Künstlers. Ein Künstler, der tief ins Leben eintaucht und sich über die Umstände in seinem Umfeld Gedanken macht, der nicht passiv war. Wir sprachen eine Zeit lang miteinander; sein Rat unterschied sich von einem Rat, den eine junge Künstlerin heute von jenen Kreisen bekommen würde. Später lud er eine Gruppe von KünstlerInnen aus Izmir ein, an „B-Fact“ teilzunehmen: der Back Sea/ Baltic Sea/ Barents Sea Exhibition, [3] die er in Istanbul organisierte. Ich nahm außerdem an Under the Beach: The Pavement Exhibition [4] teil, kuratiert von Vasıf Kortun und Halil Altındere, auch im gleichen Jahr 2002. Ich erinnere mich nicht, was eher stattfand, aber so stieg ich in die „Sache“ ein.

Video Still aus “Protein synthesis: an epic on the cellular level”, Regisseur Allan Weiss, Stanford University

Die zeitgenössische Kunst der 1990er-Jahre aus der Türkei war eine Alternative, trotz des Fehlens eines Mainstream, gegen den opponiert werden konnte. Dieser fehlende Mainstream war in entwickelten Ländern vorhanden, sowie an Orten, an denen es viel Kapital gab, eine einflussreiche Kunsttradition und eine grundlegende Infrastruktur. Also hauptsächlich als geografische Alternative (auch geschichtlich) wurde die Türkei als Erweiterung Europas gesehen, der Westen erfand in jenen Jahren auch andere – Osteuropa. Die Kunst aus der Türkei gewann sofort an internationaler Reputation, tatsächlich ein sehr qualifiziertes Interesse, zwar nicht von allen Seiten, aber von einer Gruppe von Kunstprofessionellen, die erstaunliche Dinge leisten, kritischen DenkerInnen, die sich für alternative Daseinsformen interessieren. So fand die internationale Verbreitung von Kunst aus der Türkei im Rahmen einer Reihe interessanter Diskurse statt – politischer Kunst; jenem Kampf mit dem lokalen Staatsapparat, Identitätspolitiken, die auf anti-nationalen Allianzen basierten (alle diese Initiativen vielleicht von Natur aus geprägt von leichtem Exotismus.) Auch waren damals Initiativen und kollektive Arbeiten dominant, sie waren in jenen Zeiten epidemisch. Dann in folgenden Jahren zeigten viele Ausstellungen, die sich „international“ nannten, zumindest einen Künstler, der aus der Türkei kam.

Auch das Fehlen von Kapital, Galerien, SammlerInnen und Kunstmessen machte die Kunstproduktion automatisch zu einer sehr herausfordernden (wirtschaftlichen) Alternative. KünstlerInnen generierten zusammen mit einigen wenigen KuratorInnen und AutorInnen einen Diskurs. Gruppenausstellungen waren häufig und Einzelausstellungen fanden nur selten statt. Der Vorteil des kleinen Kreises bestand darin, dass es eine starke Verbindung unter den KünstlerInnen und gemeinsamen Boden für Diskussionen über folgende Themen gab: Exotismus, das Thema des Andersseins, die Darstellungsproblematik des Westens-Ostens, bei Identitätspolitiken hauptsächlich die nationale Identität, ethische Fragen, eine Opposition zu vom Staat dominierten Institutionen zusammen mit einer anderen Produktionsarten. KünstlerInnen waren vielmehr „Biennalen-Selbstständige“ (so würde ich sie nennen), die gerne in öffentlichen Kunstinstitutionen ausstellten.

Dies sind meine Beobachtungen aus jenen Jahren.

Mein Ansatz scheint nostalgisch zu sein, nichts kann mich jedoch davon abhalten, etwas zu sagen, wenn ich darin einen Wert erkenne. Natürlich laufe ich damit Gefahr, wie die good old days zu klingen – auch wenn ich selbst von einer positiven Perspektive ausgehe, war dies tatsächlich nicht immer so. Es war ein einseitiger Diskurs und ähnelte einem Kasten, in den jeder passen musste.

Wenn wir ins Jetzt navigieren oder springen, erleben wir die Dominanz des Mainstream überall in Istanbul, sowohl intern wie extern – der internationale Mainstream ist in der Stadt angekommen und Istanbul hat seinen eigenen Mainstream geschaffen. Die „alternative” Komponente aus den 1990er-Jahren ging irgendwo auf dem Weg verloren. Der wirklich kleine Kunstzirkel der 1990er-Jahre hatte die institutionalisierten Formate verlassen (Staat-Geschichte) und ein neues diskursives Feld für die zeitgenössische Kunst geschaffen, das wir damals erlebten. In den letzten Jahren „verstopfte“ jedoch auch dieser Zugang, ohne dass wir dies näher untersuchten. So führte die Tatsache, dass wir auf kritisches Denken verzichteten, dazu, dass wir uns in die schlimmstmögliche Richtung entwickelten; – die Mehrheit – was auf brüchigen Boden im künstlerischen Diskurs traf.

Beispielhafte Ausnahmen können die Regel nicht brechen. Ich versuche, meine Argumentation sichtbar zu machen und meine Auswahl ist absichtlich nicht ausgeglichen. Darüber hinaus erwähne ich all dies, als wäre es plötzlich passiert, tatsächlich vollzog sich die Entwicklung sicherlich allmählich.

Ich fahre mit dem Vorteil fort, Teil einer kleinen Gruppe zu sein, was eben nicht mehr möglich ist. Ich erinnere mich daran, dass November Paynter über diesen Vorteil irgendwann sprach. Die innere Kommunikation war effizienter, der Informationsfluss war schneller und nährend. Dies funktionierte informell ohne irgendein gedrucktes Material. Seitdem die Kunstwelt gewachsen ist, blieb die Menge des Druckmaterials jedoch eher gleich, der Modus der Verbindung wurde also nicht durch Publikationen ersetzt. Während dieser interne, gemeinsame Diskussionsraum zu Ende ging, wandelte sich dieses „versteckte, kollektive Sein“ (so nenne ich es) zur Existenz einzelner, individueller StarkünstlerInnen. Die Menschen scheinen jetzt auch keine gemeinsamen Probleme mehr zu haben, denn da sie zur internationalen zeitgenössischen Kunstkultur gehören, sind diese gemeinsamen Themen offenbar uninteressant, während die Unterdrückung durch den Staat, die nationale Repräsentation und Identitätspolitiken jetzt selbst (diese Themen bildeten den nun auf einen einzigen, bereits erwähnten Kanal beschränkten Diskurs) wieder exotisch wurden.

Logo of Sea Elephant Travel Agency

Einst waren die KünstlerInnen Pioniere, jetzt sind sie Stars oder potenzielle Starts. Die Auswirkungen dieses Prozesses, Stars zu schaffen, sind vor allem in der jungen Generation zu fühlen, die nicht die gleichen Transformationen erleben und sie halb-blind zurücklässt. Der Prozess scheint völlig rückratlos zu sein. Durch diese Veränderungen konnten KünstlerInnen den Komfort der zuvor fehlenden Infrastruktur genießen (große Kunstinstitutionen, bessere Anerkennung usw.), sie wurden international sichtbar, zusammen mit aufstrebenden SammlerInnen und neuen Galerien; es entstanden sogar zwei Kunstmessen in Istanbul. Plötzlich ging es bei den internen Diskussionen von KünstlerInnen nur noch darum, in diese oder jene Kunstmesse zu kommen, in die eine oder andere Sammlung; der kollektive Bereich wandelte sich zum Gesprächsthema des Kunstkommerziellen. Initiativen verloren an Sichtbarkeit oder verloren ihre Radikalismen. KünstlerInnen wurde autonom ohne Galerien produziert. Die Sichtbarkeit von Kunst gelangte zunehmend in die Hände jener Beteiligten mit mehr Macht. Kunstinitiativen, alternative Wege des Ausstellungsmachens waren nun offenbar vergessen. Dabei handelt es sich hier nicht lediglich um einen subjektiven Eindruck, sondern die Entwicklung war in jenen Jahren wirklich zu beobachten. Vielleicht haben sie eigentlich andere Intentionen, aber die KünstlerInnen fuhren unter diesen Umständen fort, immer mehr zu produzieren, wie sie eben ein Geschäft führen. (Erinnert sei hier nur an die beispielhaften Ausnahmen). Die Sea Elephant Agency [5] und Diskussionen rund um diese Initiative waren sehr interessant, aber der Fokus liegt jetzt hauptsächlich auf Hüseyins Werken in wichtigen Sammlungen.

Jedoch sollte ich auch zugestehen, dass ich lediglich die Hauptaspekte miteinander vergleiche. Ich hinterfrage ihre Existenz nicht. Vielleicht gibt es auch wunderbare Initiativen, selbst-organisierte Menschen, wirklich ganz andere Visionen, aber sie sind eben nicht in der Mehrheit.

Die wachsende Homogenisierung der künstlerischen Produktion und ihre Durchführung mit leicht akzeptablen, erwarteten Modellen lässt den Kreis immer enger werden. Die Abnahme von Räumen, in denen eine außerordentliche Produktion präsentiert und diskutiert werden kann, wird von der zunehmenden Gründung von Räumen, die auf Prestige abzielen, begleitet. Diese fallen mit der Debilität von Kritik zusammen und schaffen so eine eher problematische Sphäre. Interessanterweise erleben wir in den letzten Jahren das Auftreten von größeren/großräumigen und zunehmend elitären Kunsträumen. Wenngleich wir ihre guten Intentionen anerkennen, ersetzen diese Institutionen auch alternative Bewegungen, indem sie die Themen bestimmen und Situationen und Konzepte aushöhlen.

Der Fall der Berliner Mauer, die Ära nach dem Kalten Krieg, die Einführung globalen Internets und die Türkei wird plötzlich zu einer aufstrebenden Wirtschaft (vorher ein Land der Dritten Welt): hier war natürlich eine größere Transformation zu erwarten. [6]

Was mir jedoch Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass die Kunstpraktiken seit Ende der 1990er-Jahre, besonders in Istanbul, in beträchtlich unterschiedliche Richtungen gedriftet sind. Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen oder Behauptungen aufzustellen, denn das Tabu, sich selbst dadurch von jeder Kritik zu entlasten und eine Kultur, die zwar zu kritisieren scheint, dies aber nicht wirklich tut, sind tief verwurzelt. Die Kunstbewegungen der 1990er-Jahre in Istanbul, die als relative Alternative begannen, arbeiteten mit verschiedenen Formen des Widerstands und kritischen Strukturen; diese Bewegungen strömen jetzt mit voller Kraft hin zu einer kommerziellen Sphäre, während sich die wirtschaftliche Situation verändert. Im Feld der zeitgenössischen Kunst, in dem das Geld einst kaum eine Rolle spielte, wird jetzt über Geld gesprochen und dieses überbewertet. Dies führt zu einer Transformation: die radikale, vielleicht widerspenstige Natur von KünstlerInnen wird durch Passivität und ethische Zweideutigkeit ersetzt. Wir erleben, wie kapitalistische Strategien, besonders PR-Strategien, sich im Feld der Kunst breit machen. Die zunehmende Zahl von Galerien in den letzten Jahren trägt auch zum Aufkommen einer Generation von KünstlerInnen bei, die innerhalb ihres geschlossenen Raumes produzieren; ohne sich für Widerstand zu interessieren, eine der grundlegendsten Komponenten in der Kunst. All dies wird mit Unterstützung des Geldes normalisiert. Dieses Profil steht in der Regel im Widerspruch zu den Ansprüchen von Kunst und lässt die politischen Ansprüche des Kunstwerks selbst lächerlich werden und an Glaubwürdigkeit verlieren.

Es ist notwendig, dem Thema der Instrumentalisierung von Kunst Raum zu geben. In diesem Netz von Beziehungen ist der oder die Künstlerin nicht dominant. In der dominanten Position befinden sich hingegen diejenigen mit wirtschaftlicher Macht und ihrem Schwerpunkt auf Prestige. Anstatt mit dem Strom zu schwimmen und sich an die Bedingungen der Institutionen anzupassen, sollten wir die Kritik wieder beleben. Wie auch immer ihr Name lauten mag – Initiative, Kunstzentrum, Galerie – sollte die von ihr produzierte Wissensnatur die Kunst nicht instrumentalisieren, sich vom Elitarismus fernhalten und Raum für Partizipation und Diversifizierung bei der Produktion und Verbreitung von Kunst öffnen. Dies ist das Problem, dessen Lösung unter bestimmten Bedingungen unmöglich ist. KünstlerInnen müssen einen entsprechenden Diskurs selbst einleiten, um diese Schwierigkeiten zu überwinden.

Wir sollten durch Tanzen lernen.


[1] http://wikileaks.org/Transcript-Meeting-Assange-Schmidt

[2] Resmi Görüş war eine Publikation mit insgesamt drei Ausgaben, initiiert, herausgegeben und mit vielen Texten von Vasıf Kortun. Sie wurde später in ein Blog umgewandelt: http://resmigorus.blogspot.com/ and http://www.anibellek.org/.

[3] 2003: B-Fact: Back Sea/ Baltic Sea/ Barents Sea, initiiert von Huseyin Alptekin, Bilgi Atelier 111, Istanbul, Türkei.

[4] 2002: Under the Beach: The Pavement, Istanbul Museum of Contemporary Art Project [2001–2004] kuratiert von Halil Altindere-Vasif Kortun, Istanbul, Türkei.

[5] Hüseyin B. Alptekin gründete die Sea Elephant Travel Agency als visuelles und performatives Kunstlabor, das vor allem mit Interaktionen zu den vielfältigen Völkern und Kulturen in der Region des Schwarzen Meers arbeitet.

[6] Der Rest des Textes ist ein Auszug aus einem unveröffentlichten Interview für das Muhtelif Journal, Istanbul.


Elmas Deniz

Geboren 1981 in Bergama, lebt und arbeitet in İstanbul. Neben ihren künstlerischen Praktiken ist sie eine Schriftstellerin und Initiatorin verschiedener, von KünstlerInnen organisierter Initiativen und selbst organisierter Strukturen. Gründerin der Merkezkaç publications, Herausgeberin der Mental Space Series des Sanat Dunyamız Magazins. Sie gehörte zu den GründerInnen und war Projektkoordinatorin der K2 Artist Initiative zwischen 2004–2007 in İzmir. Sie interessiert sich für globale Machtstrukturen, Kontrolle durch den Staat, Urbanismus, die Wirtschaft und Globalisierung, wie dies auch in ihrer organisatorischen und künstlerischen Praxis deutlich wird.

www.elmasdeniz.com




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