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Übersetzung aus dem Englischen: Dörte Eliass

Die zeitgenössische Kunstszene in der Türkei hat in den letzten 15–20 Jahren eine entscheidende Transformation durchlaufen. Wenn wir uns vom heutigen Standpunkt die Vergangenheit ansehen, ist es unmöglich, die teleologisch täuschenden Ideen einer historisierenden Wahrnehmung zu vermeiden. Es liegt nahe zu denken, dass in den 70er-, 80er-, 90er -Jahren alles getan wurde, um heute zu diesem Ergebnis zu kommen. Als hätten wir immer schon die aktuelle Institutionalisierung gesucht, als hätte die Unterstützung des Marktes und des Kapitals gefehlt; wir haben uns darum bemüht, diese zu bekommen, und nun haben wir schließlich auch die Institutionen und die Kunstszene, die wir uns so dringend wünschten. Daran ist nichts falsch, aber ich würde mir das alles gern etwas anders denken.

Sogar jene, die ungefähr mit Nietzsche oder Foucault vertraut sind, werden zugeben, dass die historisierende Sichtweise, nach der wir auf die Wurzel schließen, indem wir uns das Ergebnis ansehen, sehr irreführend ist. Natürlich haben einige diese Gegenwart durchaus gewünscht oder haben sie sich immer als greifbare Möglichkeit vorgestellt, aber niemand kann behaupten, die Gegenwart sei geplant, unwiderruflich oder unvermeidlich. Trotz der Intentionen und Wünsche der beteiligten Akteure ist die Kunstwelt eben aufgrund der radikalen Kontingenzen der Machtbeziehungen so geworden, wie sie heute ist.

Nach einer solchen Einführung – als würden wir die Konvention umkehren – muss ich zunächst meine Verteidigungslinie aufbauen. Dies ist notwendig, damit die Lesenden verstehen und kritisieren, was ich mit dieser Verteidigungslinie im Kopf schreibe. Ich bin als Künstler nicht gegen eine Institutionalisierung des Marktes eingestellt. Obwohl ich mich frage, wie die Kunstwelt ohne Institutionen oder den Markt aussehen würde, lehne ich diese Strukturen nicht durchwegs ab. Ich glaube nicht, dass es etwas abzulehnen gäbe, natürlich bestimmen der Markt und seine Mechanismen, riesige Institutionen, die von Kapital gestützt sind, das Wissen darüber, was Kunst ist, was gut, schön und rechtmäßig in der Kunst ist, aber diese Institutionen sind nicht starr, noch sind ihre Möglichkeiten ausgeschöpft; es ist möglich, in sie einzugreifen und sie können transformiert werden.

Ein jeder von uns ist Teil einer Gruppierung (Männer, Frauen, die Schule, das Unternehmen usw.). Warum sollte die Kunstinstitution sich davon unterscheiden; wenn das „Mann-Sein“ transformiert und subvertiert werden kann, wenn es möglich ist, innerhalb dieses Feldes einen freien Raum zu schaffen, warum sollten der „Künstler-Subjekt“, die Kunstinstitutionen und die Mechanismen des Kunstmarktes dagegen immun sein? Nebenbei bemerkt, hege ich meine Zweifel, ob der Prozess der Institutionalisierung in diesem Maß durch die Institutionen problematisiert werden sollte. Die Institutionalisierung kann durchaus auf eigenen Beinen stehen, kümmern wir uns doch um unsere eigenen Angelegenheiten.

Insbesondere sollten wir heutzutage keine strategischen Lesarten auf Makro-Ebene unternehmen, um so festzulegen, ob wir uns gegen diese Institutionen stellen – also versuchen, diese Institutionen einzunehmen oder zu reformieren. (Diese drei Optionen entsprechen in der Regel der gleichen politischen Auffassung.) Vielmehr ist es zielführend, uns die jüngste Vergangenheit anzusehen, um daraus zu lernen, neu zu schaffen, was verloren ist, und diese zu einer „Performance-Leben“ umzuwandeln. Anstatt eine genaue Wiederholung der Vergangenheit zu ersehnen und diese zu erwarten, sollten wir weiter bestimmen, was gut, schön und rechtmäßig in dieser Vergangenheit war, darauf aufbauen und dies auf die Gegenwart übertragen. Nur so können wir die Vergangenheit wirklich würdigen und ihr in der Gegenwart eine Bedeutung geben. Meiner Ansicht nach ist dies auch die ultimative Bedeutung des Archivs. Ein Archiv, das nicht inszeniert wird und von dem diese Inszenierung auch nicht gewollt ist, unterscheidet sich nicht von einem Schatz, den wir zwar froh zu besitzen sind, den wir jedoch nicht zu glänzen wünschen.

Die Kunstwelt der 90er-Jahre ist ein wichtiges Thema für die zeitgenössische Kunstszene. Eine Menge Menschen und Gruppen, die in den 1990er -Jahren aktiv waren, leben noch immer. Einige dieser Persönlichkeiten führen jetzt wichtige Institutionen und sind zu etablierten Künstlerinnen geworden, während sie sich mit der Geschwindigkeit der Institutionalisierung überallhin verteilten und sich vom Zentrum der Kunstwelt an die Ränder bewegten oder sich dafür entschieden, einfach ganz zu verschwinden. So scheint es kaum möglich zu sein, die 1990er-Jahre tatsächlich zu erzählen. Die Erzählung der 1990er -Jahre in den 2000er -Jahren sollte multiple Erzählungen bergen und politische Haltungen, die einander widersprechen und miteinander in Konflikt stehen.

In diesem Sinn sind die 1990er -Jahre noch immer lebendig in der Gegenwart und greifbar. Um diese Geschichte wiederzugeben, sie aus der Perspektive einer Historikerin und eines Archivisten zu beschreiben, ist das Letzte, was ich will. Lieber möchte ich mir ansehen, was in den 1990er -Jahren nachahmenswert, anziehend war und was uns heute stärker machen könnte.

90s: eine Art des Seins

Immer wenn ich den Ausdruck „1990er -Jahre“ verwende, denke ich darüber nach, was ich damit eigentlich meine. Ich glaube, die 1990er entsprechen einer Art des Seins, einer Art des „Machens-Tuns“, mehr als einem Zeitabschnitt, einer Periode. Die 1990er -Jahre sind demnach nicht die Bezeichnung einer Zeitspanne, die jetzt Vergangenheit ist und nie zurückkommen wird, sondern sie sind eine Art des „Seins”. Dieser „Seins-Stil“ muss nicht unbedingt von den Akteuren herrühren, den Intentionen der Subjekte und Persönlichkeiten, sondern ist etwas, das sich mit der Zeit unter dem Einfluss der Umgebung entwickelt hat. So können wir einem/er KünstlerIn aus den 1990er-Jahren auch in den 2000er-Jahren begegnen, oder wir hätten einem/er KünstlerIn der 1990er-Jahre davor oder danach begegnen können. Aber was macht dann genau diese „Lebensweise“ aus, was trennt die 1990er -Jahre von der Gegenwart?

Generell berührt dies mehrere Themen. Die Auflösung der bi-polaren Welt und der vorgestellte pluralistische, post-moderne Diskurs – alles positiv–, die Mobilität, die Dezentralisierung, Diskussionen von Urheberschaft, künstlerische Haltungen, die vom Alltäglichen genährt werden, während Kunstinstitutionen fehlen, Positionen, die sich wirklich am Leben orientieren wollen, an der Straße. Die sozio-politische Landschaft ist offen für diese Szene: der unerwartete Kosmopolitismus, der sich nach dem Fall der Berliner Mauer und der Sowjets entwickelte (Aksaray, Laleli, Tarlabaşı), informelle Märkte und Handel, Subkulturen, Transvestiten Subjekte-Objekte, die erneute Berücksichtigung von Kitschobjekten und Sprache, Strategien des Widerstands, die sich von der Basis gegen die wirtschaftliche Krise entwickelten, die sich verändernde Dynamik erhöhter Zirkulation und am wichtigsten, das raue politische Klima, die Politiken von Nationalismus und Gewalt ... Die 1990er -Jahre sind verwirrend, Bohemien, vagabundierend und ständig im Fluss. In dieser Zeit veränderte sich der Boden unter unseren Füßen, starre Institutionen und Formen des Subjekts. Vielleicht sind die 1990er Jahre deswegen das Ziel romantischer eskapistischer, mythologisierender Wünsche.

Anstelle von Institutionen, persönliche und Gruppeninitiativen

Wenn wir dann über die Kunstszene nachdenken und sie mit der heutigen vergleichen, was sehen wir? Das erste, was uns auffällt, ist das Fehlen von Museen, von Kunstinstitutionen. In den 1990er -Jahren gab es fast kein Kapital, abgesehen von geringeren, irregulären Mitteln. Der Markt kümmert sich nicht um zeitgenössische Kunst, das Hauptinteresse liegt bei Skulptur und Malerei. Das Fehlen von Institutionen, Markt und Kapital produziert einen Freiraum, in dem informelle, liquide Energien ungehindert fließen. Da Institutionen und Kapital fehlen, ist es unmöglich, sich eine individuelle, professionelle künstlerische Karriere vorzustellen. Die Kunstwelt basiert zunehmend auf organischen Beziehungen, bescheidenen Initiativen. Zum Beispiel werden viele Ausstellungen gemeinsam von KünstlerInnen und KuratorInnen produziert. Die Ausstellungen in den 1990er -Jahren sind immer Gruppenausstellungen: „Youth Events”, „GAR“, „Globalization-State, Poverty, Violence“, „Number 50/Memory II“... Wenn wir uns die Kunstwelt heute ansehen, lässt sich feststellen, dass der Produktionsmodus auf einer Ein-Personen-Ausstellung in der Galerie basiert. Während die 1990er -Jahre von einem Amateurgeist gekennzeichnet waren, der sich unter dem Patronat organischer Beziehungen entwickelte, werden die 2000er -Jahre von Individualisierung und einer professionellen Einstellung dominiert.

Von horizontaler Fluidität zu Vertikalität: sich einrichten

Dieser zentrale Unterschied hat zahlreiche Nebenwirkungen. KünstlerInnen sind einsamer heute in ihren Ateliers, in ihrem emotionalem Leben und Gedanken, sie sprechen meistens mit ihren GaleristInnen. In den 1990er Jahren dagegen sprachen die KünstlerInnen, KritikerInnen und KuratorInnen miteinander. [1] Die Arbeitsteilung war noch nicht streng umgesetzt. Dies soll aber nicht heißen, dass manche KuratorInnen nicht mächtiger als andere waren. Die KuratorInnen waren so bestimmend, wie sie es auch heute sind, aber die Struktur zwischen den KünstlerInnen und den KuratorInnen war viel flexibler und informeller. Die auffälligste Veränderung im Hinblick auf die Position der KuratorInnen besteht darin, dass KuratorInnen nun spezifische Kunstinstitutionen vertreten. Heute ist ein/e Kurator In LeiterIn eines Museums oder DirektorIn einer Institution, außerdem eine Bekanntschaft, ein/e FreundIn, jemand, mit dem Sie ihre Ideen teilen. In diesem Sinn hat sich die zeitgenössische Kunst eingerichtet, ihre „fließende“, vagabundierende Energie ist fest geworden, institutionalisiert, formalisiert.

So sind also die Beziehungen in der Kunstwelt vertikal geworden, anstatt horizontal, und die Institutionalisierung hat formelle oder informelle Hierarchien entstehen lassen. Heute ist es für Künstlerinnen und Kuratorinnen sehr einfach, sich einen Rang zu verdienen: Wer befindet sich in welcher Sammlung, wer wird durch welche Werke repräsentiert? Welche/r KuratorIn arbeitet für mehr aktive Institutionen mit einem größeren Budget und einer weiteren Bandbreite von Möglichkeiten? Welche/r KünstlerIn ist im Aufschwung und wessen Markt wächst mit den Preisen und Förderungen, die gewonnen wurden? Heute hat jeder an der Kunstwelt Beteiligte diese Liste mit Rangfolgen im Hinterkopf.

In einem solchen Kontext bestimmten die PR-Abteilungen des Marktes und der Institutionen, was gute und schöne Kunst ist, viel mehr als KuratorInnen, KünstlerInnen und KritikerInnen, die einen Diskurs von der Basis aus entwickeln. In den 1990er -Jahren war die Zahl der BesucherInnen relativ gering (parallel zum Fehlen von Institutionen ) und die kleine, halb geschlossene Kunst-Gemeinde produzierte und diskutierte unter sich und ließ ein Umfeld entstehen, in dem es mutigere Experimente und Produktionen geben konnte, die von keiner Angst vor Versagen behindert wurden. Heute machen KünstlerInnen vor ihren Ein-Personen-Ausstellungen eine Krise durch. Da die Erfolgskriterien von einer äußeren Quelle bestimmt werden, besteht für den/die KünstlerIn nicht nur ein Erfolgsdruck, sondern Unsicherheit und Depression werden auch symptomatisch für die Kunstwelt.

Zynismus

Daneben erlebten wir auch, dass in den 2000er-Jahren die Politisierung des Kunstfeldes neutralisiert wurde, während sich die Kunstwelt transformierte. KünstlerInnen produzierten politisch orientierte Werke, wie sie es auch in den 1990er- Jahren taten, gleichzeitig haben diese Werke jedoch heute nicht die gleiche Nachwirkung. Vielleicht gibt es mehr Betrachtende, aber paradoxerweise ist die Wirkung wohl eher marginal.

Auch wenn wir die Transformation der politischen Szene der Türkei in den 2000er- Jahren in Betracht ziehen, sowie den Prozess während der AKP-Regierung, glaube ich, dass dieses Schwächung in erster Linie auf die Transformation der Kunstwelt zurückzuführen ist. In einem Augenblick, in dem der Markt florierte und jeden künstlerischen, politischen Stil absorbierte und Kunstinstitutionen chic, steril und konventionell sind, verlieren Arbeiten mit einem sehr politischen Inhalt ihre Wirkung – ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die „schwächsten“ Arbeiten solche hoch politischen Werke sind. Die Institutionalisierung erfordert „sauberere“ Werke von „höherer Qualität“, „produzierte“ und „abgeschlossene“ Werke. Unabhängig von den Politiken der Institution und den Intentionen der KuratorInnen erweitert diese institutionelle Umgebung das institutionelle Kunstwerk und verleiht ihm Wirkung. Die Reaktion der Betrachtenden und Kritik baut auf dieser Sprache auf.

In den 1990er-Jahren stand es den BetrachterInnen frei, politische und soziale Reaktionen auf Performance und Installationen abzugeben, wobei Ästhetik und Politisierung gemeinsam betrachtet wurden, da kein institutioneller Rahmen zur Verfügung stand. Heute sind die Betrachtenden dazu angehalten, die Qualität der Arbeiten zu analysieren. Natürlich wird in einer solchen Situation der Gaube der KünstlerInnen in die politische Natur ihrer Werke unterminiert. Es herrscht eine Atmosphäre von Angst und Unsicherheit, da die KünstlerInnen die politische Natur ihrer Werke anzweifeln und ihre Verankerung bei den Institutionen, die vom Kapital gestützt werden, als schwach betrachten. Ein gewisser Zynismus beginnt, sich breit zu machen...

Ich äußere all dies heute, um die Krankheiten unserer chicen, formellen Kunstwelt zu identifizieren, die angeblich von einer starken Infrastruktur getragen ist. [2] Die 1990er- Jahre sind nicht die einzige Quelle, in der wir nach guten Aspekten Ausschau halten können, aber sie ist uns noch immer am Nächsten und lebendig. Als jemand, der noch die letzten Jahre der 1990er bewusst erlebte – wenn ich mir die Ausstellungsdokumente und Kunstwerke aus den 1990er-Jahren ansehe, hinterlassen die Aufregung, die ich verspürte, als ich das Magazin Art-ist zum ersten Mal las, die Energie, die ich angesichts von Hüseyin Alptekins Loft empfand, kein Echo, ich kann keines erkennen. Tatsächlich treiben uns aber genau diese Gefühle in eine andere Richtung und statten uns mit der Kraft des Widerstands aus. Dokumente, Kunstwerke und Fotografien reichen in diesem Sinn nicht aus, sie öffnen nicht, sondern verdecken eher etwas. Wenn wir das Heute retten wollen, sind die 1990er- Jahre zwar eine Ressource, aber auch eine Ressource, die wir ansehen und dann vergessen können; sie können jedoch auch eine Ressource sein, die sich in eine Lebensweise wandeln lässt.


[1] An dieser Stelle ist die Erwähnung von Sezin Romis Ausstellung „GAR“, „Globalization-State, Poverty, Violence“, „Number 50/Memory II“ passend , die ihren Namen von Ali Akays Ausdruck „It was a Time of Conversation“ entlehnt.
http://saltonline.org/tr/236/ 18-03-2013 18-03-2013

[2] Die Entscheidung der Bilgi University, die Kunstwerke zu verkaufen, die sie mit dem Versprechen, einen Kunst-Komplex aufzubauen, gesammelt hatte, zeigt die Verletzlichkeiten dieser Infrastruktur und die logistischen Investitionen.


Burak Delier

Geboren in Adapazan (1977), lebt und arbeitet in Istanbul. In dem Forschungsprojekt Art Facts (2012) versuchte er, die institutionelle Performance der Kunstinstitution SALT zu bewerten. Er passte seine Forschungstechniken der zeitgenössischen management-bestimmten Denkweise an; so begann das Projekt mit einer institutionellen Studie, die durch on-site Interviews realisiert wurde, und setzte sich mit der Live-Übertragung eines institutionellen Meetings fort, in dem die Ergebnisse dieser Analyse präsentiert werden. In Collector’s Wish (2012) produzierte er ein Kunstwerk, das der Sammler Saruhan Doğan konzipiert hatte. Bei der Biennale von Taipeh präsentierte Delier die Funktionsweise der Institution der Biennale und das kritische Potenzial von Kunst, indem er das Personal der Biennale von den EntscheidungsträgerInnen bis zu den PraktikantInnen untersuchte. Delier graduierte (MA) im Fach Art Practice an der Fakultät für Art and Design der Yıldız Teknik University, wo er auch sein Doktorat abschloss.




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