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grafisches Element

Moderne Essays 5: Transplantat (Aşı)
Aslıhan Demirtaş
SALT Galata
25. Mai – 26. August 2012

Berin Golonu »


Übersetzung aus dem Englischen: Tom Waibel

Die vom Architekten Aslıhan Demirtaş erarbeitete und gestaltete Ausstellung Transplantat (Aşı) untersucht die Transformation der Geographie Anatoliens aufgrund der Konstruktion von Staudämmen und Wasserkraftwerken seit den 1930er Jahren bis in die Gegenwart. „Transplantat“, das von Demirtaş gewählte Motto der Ausstellung, vergleicht die Formation der künstlichen Seen, die durch das Aufstauen von Flüssen entstanden sind, mit dem Klonungsprozess von Pflanzen durch Transplantation.

Demirtaş stellt diese Seen als Wassermassen dar, die den Küstenverlauf der Türkei in die trockenen Gebiete im Landesinneren transplantiert haben. Zur Veranschaulichung der Idee des Transplantates zeigt ein Video vor Ort, wie ein Bauer eine Sorte durch das Zusammenfügen von Zweigen zweier unterschiedlicher Obstbäume klont. Ein Wandtext erklärt, wie der Transplantationsprozess in Gartenbau und Agrikultur zur Herstellung von hybriden Arten eingesetzt wird. Die Ausstellung portraitiert rund zwei Dutzend der größten künstlichen Seen Anatoliens, die in Miniatur als gläserne Skulpturen nachgebildet sind. Die begleitenden Informationsgrafiken sind auch online auf http://graftonline.org zu finden. Sie bieten weiterführende Informationen über diese Seen und portraitieren die 700 größten künstlichen Wassermassen, die in den vergangenen Jahren die Geographie Anatoliens verändert haben.

Demirtaş bezieht eine recht objektive Perspektive auf diese geographischen Transformationen und deren soziale Konsequenzen. Die Ausstellung schlägt keinen didaktischen Tonfall an, der etwa die schädlichen Umwelteffekte der Staudämme oder die Zerstörung der kulturellen Überreste und archäologischen Artefakte auflisten könnte, die unter den Überflutungen versunken sind. Ebenso wenig werden die Auswirkungen auf die lokalen Bevölkerungen aufgezeigt, die vielfach von ihren Gebieten entwurzelt, von ihren traditionellen Subsistenzweisen entfernt, oder aus ihren kulturellen Traditionen verdrängt werden. Indem ihre Errichtung mit einem „Transplantat“ verglichen wird, zeigt die Ausstellung diese künstlichen Seen scheinbar als eine weitere notwendige Errungenschaft von wissenschaftlicher Ingenieursarbeit zur Verbesserung des menschlichen Lebens in der modernen Welt; etwa so, wie eine Transplantation den Ertrag einer beliebten Obstsorte vergrößern kann. Demirtaş' unvoreingenommener Zugang zum kontroversiellen Thema der Staudämme ist möglicherweise ein Versuch herauszufinden, warum die Mehrheit der türkischen Bevölkerung die Konstruktion neuer Staudämme noch immer begrüßt, anstatt Einwände gegen deren nachteilige Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft zu erheben.

Bildnachweis: Serkan Taycan
Architekt / Researcher: Aslıhan Demirtaş
http://graftonline.org

Der erste Teil der Ausstellung skizziert eine Antwort auf diese Frage. Er zeigt eine Studie der ersten kultivierten Pflanzensorten Anatoliens sowie den ersten Staudämmen und Seen, die in der Nähe der Hauptstadt errichtet wurden. So wurde etwa die Konstruktion des berühmten Çubuk-Staudamms 1936 mitten in der republikanischen Periode des Staates unter der Leitung von Atatürk fertiggestellt. Demirtaş macht den Çubuk-Staudamm zum Symbol dafür, wie die Vorstellung von Fortschritt und Entwicklung den politischen Diskurs in der Türkei während der Zeit der Staatsgründung dominiert hatte und in welchem Maß diese Vorstellung die Mentalität der türkischen Bevölkerung immer noch beherrscht. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs und dem Trauma von zwei verheerenden Kriegen wurde 1923 die Konstruktion dieses Staudamms und anderer industrieller Monumente als integraler Bestandteil im Aufbauprozess einer vollwertigen neuen Republik begriffen. Der Çubuk-Staudamm wurde zum strahlenden Symbol der Vergrößerung des nationalen Reichtums. Zeitungsausschnitte aus den 1930ern und 1940ern zeigen, dass die türkischen Medien den Staudamm als den „Bosporus von Ankara“ priesen. Eine Ausstellung von Familienfotos aus den 1940ern und 1950ern illustriert, dass der Stausee zum Ziel für zahlreiche türkische BürgerInnen wurde, die dorthin ihre Wochenendausflüge unternahmen. Der Çubuk-Staudamm versorgte Ankara fast sechzig Jahre lang mit sauberem Trinkwasser, doch nachdem 1994 Erosionen seine Gewässer verschmutzten, wurde er geschlossen und das Wasser gilt seither als nicht trinkbar. Obwohl diese Geschichte zeigen kann, wie wenig nachhaltig Wasserkraftwerke für die Versorgung des langfristigen Wasser- und Energiebedarfs der Nation sind, fährt die türkische Regierung fort, in deren Aufbau zu investieren und erfährt dabei nur geringen öffentlichen Widerstand.

Im zentralen Teil der Ausstellung sind Miniaturmodelle von einigen der größten künstlichen Seen Anatoliens als Glasskulpturen nachgebaut. Es scheint so, als wären die Skulpturen mit Metallstäben auf ihre glänzenden schwarzen Sockel geheftet worden. Dabei handelt es sich möglicherweise um einen weiteren Hinweis auf den Transplantationsprozess. Die filigrane Konstruktion aus Glasplatten lässt die Skulpturen wie Höhenmodelle wirken, die Umfang und Tiefe der Seen zeigen. Das glatte Design verleiht der Ausstellung das Aussehen einer wohlhabenden Konzernumgebung, und die Glasskulpturen ähneln den Kristalltrophäen im Büro eines Generaldirektors, als wären sie Miniaturmonumente einer geschäftlichen Eroberung. Die äußerst zarte und dabei kostbare Erscheinung der gläsernen Objekte lenkt die Aufmerksamkeit auf die Zerbrechlichkeit der künstlichen Seen und die Ungewissheit ihrer ökologischen Folgen.

Ein Video-Interview von Demirtaş mit Süleyman Demirel, einem ehemaligen Premierminister der Türkei, konzentriert sich auf eine spätere Etappe in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und zieht weitere Parallelen zwischen der staatlichen Politik und dem staatlichen Industrialisierungsprogramm. Demirel ist ein begabter Redner, der die Rhetorik des nationalen Fortschritts benützt, um die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen und die anhaltende staatliche Förderung für den Bau von Wasserkraftwerken zu rechtfertigen. Er hält eine inspirierende Rede über den Besuch des Hoover-Staudamms während einer USA-Reise und spricht vom Wunsch, ein Bauwerk zu errichten, das seinem eigenen Land eine vergleichbare Menge an Kraft und Energie nutzbar machen sollte. Dann hebt er zu einer anregenden Erzählung darüber an, wie der Bau von Staudämmen in der Türkei während den 1960ern und 1970ern dazu beitrug, die Überschwemmung der Dörfer zu bekämpfen und die ländliche Bevölkerung durch Elektrizität und Landwirtschaft der Armut zu entreißen. Demirel erörtert aber in keiner Weise, wie in den 1980ern die Umsetzung von neoliberalen Strategien in der Türkei die Politik in den Dienst der kapitalistischen Entwicklung stellte, die zu Lasten der nationalen Umwelt- und Naturschutzgesetzgebung erfolgte. Er zieht eine strategisch durchaus trügerische Verbindung zwischen dem frühen nationalen Industrialisierungsprogramm, das die elementaren infrastrukturellen Bedürfnisse der Nation und ihrer Bevölkerung abdeckte, und der gegenwärtigen und zukünftigen Industrialisierungsgeschwindigkeit, die sich drastisch erhöht hat, um das Wachstum einer exportorientierten Wirtschaft zu ermöglichen. Tatsächlich bekommt der Gewinn, der eine solche Ökonomie den Unternehmensinteressen bringt, meist einen höheren Stellenwert als die Grundbedürfnisse der Öffentlichkeit, und zwar saubere Luft und sauberes Wasser, ganz zu schweigen vom Recht auf Naturschutzgebiete und andere Lebensräume, die nicht durch Entwicklung verschmutzt wurden.

Transplantat ( Aşı) blickt durch das Vergrößerungsglas einer veränderten Topographie, um einen Prozess zu kartographieren, der das türkische staatliche Industrialisierungsprogramm mit Fragen des nationalen Fortschritts verknüpfte. Die verschiedenen Elemente der Ausstellung zeigen, wie die erhöhte Industrialisierungsrate des Landes die physikalische Landschaft rigoros verändert. Die Ausstellung benennt nicht unmittelbar die Langzeitfolgen, die aus einer solchen Veränderung möglicherweise resultieren, doch sie deponiert diese Frage in den Köpfen der BesucherInnen. Durch die Einbeziehung des Çubuk-Staudamms wird deutlich, wie die türkischen BürgerInnen in den Jahren der Industrialisierung der Nation gelernt haben, sich selbst zugleich als AkteurInnen und als Begünstigte dieses Fortschritts zu begreifen. Ein Wandel der sozio-ökonomischen und ökologischen Interessen würde aber einen Bruch mit der politischen Rhetorik der Vergangenheit erforderlich machen, um neue Definitionen von Fortschritt zu artikulieren, in denen eine nachhaltigere Zukunft vorstellbar wird.


Berin Golonu

Berin Golonu ist Doktoratsanwärterin im Graduiertenprogarmm der Visual and Cultural Studies an der University of Rochester.




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