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Sozialer Surrealismus: Historisch-materialistische Thesen zum Rätsel der Kunst

Sezgin Boynik »


Aus dem Englischen übersetzt von: Tom Waibel

a. Thesen

  • Kunst beginnt mit der Übersetzung von strukturellen Normen des zu behandelnden sozialen Materials in eine eigene Norm/Sprache.
  • Kunst ist eine soziale materialistische Phantasie, die auf Mangel beruht.
  • Die epistemologische Differenz der Kunst (Verortung jenseits von Geschichte, Ekstase, Phantasie, etc.) basiert auf der Konstruktion von Wissen und Gesellschaft als sich widersprechende und widerstreitende Felder.
  • Die Differenz der Kunst existiert nur, wenn die Zeit, die sie errichtet hat, unter Vermeidung von Abgeschlossenheit materialistisch wird.
  • Selbst wenn die Idee des Fremden für sozial bedingt angesehen wird und Kunsttheorie und -praxis den Surrealismus als Sackgasse oder Verwirrung abtun, so sind die im Umlauf befindlichen Formen immer psychologisch.
  • Kunst ist eine absolute Konstruktion, da alle äußerlichen/externen Materialien (Gesellschaft, Psychologie, etc.) als Konstruktionen ins eigene System einbezogen werden.

b. Das surrealistische Objekt

Die Absicht dieses Artikels besteht darin, historisch-materialistische Thesen zum sozialen Surrealismus auf der Grundlage zweier Künstler aus der Türkei zu entwickeln. Daher ist es erforderlich, den Gegenstand der soeben zusammengefassten Thesen an konkreten Kunstwerken nachzuweisen. Es geht dabei darum, den Surrealismus in den Werken von Hüseyin Bahri Alptekin und Ahmet Ögüt darzulegen. Das bedarf einer genauen Untersuchung von Ögüts Explodierte Stadt [Exploded City], ein surrealistisches Werk par excellence. Betrachtet man allerdings eine missbilligende negative Kritik, dann lässt sich Explodierte Stadt als ein Zeichen von Oberflächlichkeit begreifen, als eine ästhetische Darbietung, die in der Sprache der Massenkommunikationsmittel hergestellt wurde und weder die darin benutzten Konzepte vollständig erforscht, noch die intellektuellen Mittel, derer sie sich bedient, aufrichtig einsetzt. Dieser in Bidoun veröffentlichten Kritik zufolge hat Ögüt die Ideen von Italo Calvinos „Die unsichtbaren Städte“ simplifiziert, sowie die Spannung und die Gewalt zwischen Differenz und Gleichheit bei Calvino „leicht gekränkt“ (Krasinski 2010: 138). Folgt man Jennifer Krasinski, der Autorin dieser Kritik, dann geschah diese „leichte Kränkung“ aufgrund des mangelnden Interesses des Künstlers am Entwurf einer gemeinsamen Sprache für die BewohnerInnen der „explodierten Stadt“, deren verschiedenartige sozio-kulturelle und politische Ausstattung in die Gebäude Eingang gefunden hat. Die Kritik Krasinskis basiert auf den elementaren Prinzipien einer „relationalen“ Soziologie: Sie denkt Gesellschaft als eine Konstruktion, die besteht und funktioniert, indem diese Gesellschaft als Repräsentation in die Kunst versetzt wird. Aus dieser Perspektive kann Krasinskis Kritik den sozialen Surrealismus von Explodierte Stadt nicht erkennen, der ihr wichtigstes Unterscheidungsmerkmal ausmacht. Denn das, was die in Konflikten zerstörten Gebäude in dieser Installation zusammenbringt (ihre Vernähung und Verknüpfung), ist nicht die Aussicht auf Beziehung und Kommunikation, die zwischen ihnen stattfinden könnte. Das Werk legt vielmehr nahe, dass diese Beziehung nur als Konstruktion gestaltet werden kann, als eine unmögliche Konstruktion. Daher können die Gebäude (das soziale Material), die unter dem Einfluss eines Konflikts stehen, nicht als Konflikt repräsentiert werden. Sie wurden vielmehr als Konfliktzone genutzt, die als solche mithilfe des Surrealismus wiedererobert wurde. Explodierte Stadt ist daher kein Werk einer surrealistischen Realität, sondern ein sozial surrealistisches Werk. Es ist angebracht, hier selbstkritisch darauf hinzuweisen, dass die Vermutung, Konflikt entspräche einer historisch geformten politischen Idee, unrichtig ist. Ich sage das insbesondere im Hinblick auf die Interpretation, die ich für den Katalog der Biennale in Venedig geliefert habe (das Werk wurde in Venedig erstmals gezeigt).

Trotz meiner Feststellung einer Beziehung zwischen dieser Installation, dem Surrealismus und der Unmöglichkeit im Hinblick auf Max Ernsts Theorie der Collage, muss ich festhalten, dass mein Artikel „Schwierigkeiten, mit Gebäuden Politik zu machen“ zwangsläufig innerhalb der Grenzen der relationalen Wissenschaft der Soziologie verblieb. Das war die Folge meines Versuchs, zu ermessen, ob diese Beziehung aufgrund der Repräsentation des in der Installation verwendeten Materials dauerhaft sei (vgl. Boynik 2009).

Obwohl das Material dieser Analyse Konflikt war (politischer Konflikt, genauer, politischer Konflikt als einem Ergebnis von Klassenkonflikten), fragte sie danach, unter welchen Bedingungen Konflikt repräsentiert wurde oder ob er korrekt repräsentiert wurde (es ging um den Konflikt in Jugoslawien). Darüber kam jene Politik der Repräsentation ins Spiel, die der „soziale Surrealismus“ zu vermeiden versucht. Der soziale Surrealismus von Explodierte Stadt besteht nicht in der Repräsentation von Konflikt, sondern in der vollständigen Transformation von Konflikt.

Um den Surrealismus in den Werken von Hüseyin Alptekin zu entdecken, ist es entscheidend, die persönlichen Beziehungen, in denen die Besonderheiten sehr deutlich zutage treten, und die Narrative, die sich um diese Beziehungen ranken, zu untersuchen. Zieht man zudem die vom Kunstzentrum SALT veröffentlichte Publikation über Alptekin zu Rate, dann fällt ins Auge, dass diese persönlichen und skurrilen Beziehungen in den von der Herausgeberin Duygu Demir ausgewählten Interviews und in den Texten des Künstlers selbst sehr häufig erwähnt werden. Die Gesellschaft, die das Baumaterial für Alptekins Kunst abgibt, kann als eine Fiktion bezeichnet werden, die aus seltsamen Orten und seltsamen Menschen besteht, die sich zu seltsamen Zeiten überschneiden. Die gesamte surrealistische Operation des Künstlers basiert auf einem solchen Fluss von Erfahrung. Diese Erfahrung lässt sich auf jene Korrespondenzen zurückverfolgen, die die Grundlage für die Erfahrung der Moderne bei Charles Baudelaire schafft; alle Avantgarde-Kunst und insbesondere die surrealistische Kunst fußt auf dieser Methode. Doch der Surrealismus in Alptekins Kunst wird nicht als das Resultat einer starken Verbindung zu dieser historischen Avantgarde offenkundig. Sein Surrealismus entspringt dem Umstand, dass er die Konstruktion von Gesellschaft durch einen Transformationsprozess schleust. Daher besitzt der Surrealismus bei Alptekin eine materialistische Existenz. Es ist äußerst wichtig darauf zu insistieren, denn die Vorstellung von Korrespondenz ist auf rationale Weise nur schwer erklärbar und sie wird vielfach mit Hilfe von mystischen und Jung'schen Begriffen (etwa der Synchronizität) beschrieben. Demzufolge verweisen die Koinzidenzen, die scheinbar von einer seltsamen Harmonie geprägt sind, nicht nur auf die Existenz eines göttlichen Plans, sondern spielen auch in einem größeren Rahmen eine konzeptuelle Rolle. Aus einer theoretischen Perspektive besteht das Argument solcher mystischen Korrespondenzen darin, dass die aus unterschiedlichen Elementen gebildete Einheit eine besondere Ähnlichkeit unterhalb der sichtbaren Differenzen dieser Elemente erforderlich macht. Ein wenig überspitzt ließe sich behaupten, dass diese mystische Sicht eine New Age Version der Spezifität bei Laclau und Mouffe darstellt. Aber es ist auch möglich, von einer atheistischen, oder vielmehr materialistischen Korrespondenz zu sprechen: Wir beziehen uns dabei auf eine Operation, in der die Einheit (und Vernähung) von unterschiedlichen und gegensätzlichen Elementen nicht als spontanes und zufälliges Phänomen angesehen wird, das mithilfe der Spezifität erreicht wird, sondern als den Ausdruck einer Konstruktion, die in der Lage ist, diese Diskrepanzen zu vereinen. Einige der theoretischen und praktischen Ergebnisse dieser Methode werden in Kürze Erwähnung finden. Zur Darstellung von Alptekins Methode könnte man „kognitive Karten“ (Jameson 1990) jener Korrespondenzen erstellen, die er als Fakten bezeichnet, und eine materialistische Analyse dieser Zufälligkeiten aufzeigen. [In einem Interview mit Evrim Altuğ diskutiert Alptekin im Detail eine Karte solcher „Fakten“ ( Altuğ 2007)]. Aber ich bin der Ansicht, dass es um den Nachweis dessen gehen muss, dass diese surrealistischen Begegnungen in Alptekins Werk von Sprache geprägt sind. Linguistische Studien können einiges dazu beitragen, die künstlerische Spezifität der materialistischen Struktur von Ideologie zu begreifen. Der Surrealismus von Alptekin kann in sprachbasierten Konflikten am deutlichsten ausfindig gemacht werden. Ein weiteres surrealistisches (oder „phantastisch lyrisches“) Beispiel, das ähnlich funktioniert wie die Konstruktion von „Bal-kan“, bezeichnet Alptekin als „Seifenstein“.

Der Seifenstein ist nur ein Vermittler, der als Speicher eingesetzt wird, um eine mögliche Gestalt zu erinnern. Tatsächlich gibt es so etwas wie einen Seifenstein gar nicht (es handelt sich dabei nur um den dichtesten Zustand, den Stein-Zustand von Seife, die sich beim Waschen auflöst – der härteste Zustand von Seife und der weichste Zustand von Stein). Der Seifenstein bringt aufgrund seiner Natur und seiner Funktion einen eigenen semantischen Diskurs mit sich (vgl. Wittgenstein, Alptekin 2011: 51).

Bei einer genauen Untersuchung dieser Sprachphilosophie wird die Beziehung von Alptekins Surrealismus mit Gesellschaft und Politik sichtbar (insbesondere im Hinblick auf den Begriff der Gewalt).

c. Soziale Konstruktionen

Jetzt geht es um die Frage, worin sich der soziale Surrealismus im Werk von Alptekin und Ögüt unterscheiden. Die beiden sozialen Surrealisten sind dadurch voneinander getrennt, dass ihre künstlerischen Systeme die Gesellschaft, die sie transformieren, als jeweils unterschiedliche Konstruktionen einbeziehen. Wie ist es möglich, die sozialen Differenzen zwischen zwei surrealistischen Tendenzen nachzuweisen, wenn man die bisher vertretenen Theorien im Auge behält, oder aber ohne sich auf eine soziologische Erklärung zu stützen? Dabei soll die Frage beantwortet werden, wie die Gesellschaft in die Kunst als Konstruktion eingebettet wird. Um das zu begreifen, gilt es, auf das wiederholt erwähnte Motiv der Moderne zurückzukommen.

Um das Problem der Moderne in der Konstruktion von Gesellschaft gänzlich aus einer theoretischen Perspektive zu untersuchen, ohne es dabei einer soziologisch relationalen Erklärung zu unterziehen, genügt es nicht darauf hinzuweisen, dass die Moderne eine theoretische Konstruktion ist, denn auch dann müsste das Objekt dieser theoretischen Konstruktion bestimmt werden. Wir aber benötigen eine Definition des Objekts der Moderne und dieses Objekt ist die Zeit. Wenn die sozialen Konstruktionen von Alptekin und Ögüt im Hinblick auf das Konzept von Zeit hinterfragt werden, lässt sich das Rätsel als das Objekt der Kunst in einen vollständig historisch-materialistischen Rahmen spannen.

Speziell der Versuch, Hüseyin Alptekins Kunst mit dem Konzept von Zeit in Beziehung zu setzen, wird von Leuten, die mit seinem Werk vertraut sind, in Abrede gestellt werden. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass sich Alptekins Werke zumeist auf das Konzept von Raum beziehen. Die Installation Heterotopie (1991–2007), die als sein bedeutendstes Werk gilt, wird als ein surrealistisches Raumnarrativ angesehen, und jener Text von Michel Foucault, der denselben Titel trägt und diesen Ausdruck bekannt gemacht hat, ist der einzige theoretische Text, der in der Publikation über Alptekin Aufnahme fand. Es wird daher schwer fallen, die Existenz des Objekts der Zeit in seinen Werken zu begreifen, solange nicht zuvor dargelegt wird, welche Funktion der Begriff der Heterotopie in Alptekins Werk übernimmt. Unabhängig von der jeweiligen Perspektive ähnelt Alptekins Surrealismus am stärksten dem dritten Prinzip der Heterotopie bei Foucault:

„Die Heterotopie vermag an einen einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind. So lässt das Theater auf dem Viereck der Bühne eine ganze Reihe von einander fremden Orten aufeinander folgen; so ist das Kino ein merkwürdiger viereckiger Saal, in dessen Hintergrund man einen zweidimensionalen Schirm einen dreidimensionalen Raum sich projizieren sieht. Aber vielleicht ist die älteste dieser Heterotopien mit widersprüchlichen Platzierungen der Garten.“ (Foucault 2005: 38)

Die Form des sozialen Surrealismus ist auf diesem Prinzip aufgebaut. Doch im vierten Prinzip der Heterotopie vertritt Foucault die Ansicht, dass ein solches surrealistisches Setting eng mit der Zeit verknüpft ist.

„Die Heterotopien sind häufig an Zeitschnitte gebunden, d.h. an etwas, was man symmetrischerweise Heterochronien nennen könnte. Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen. (Foucault 2005: 39)

Wir schlagen daher vor, Alptekins Begriff von Heterotopie durch Heterochronie zu ersetzen.

Kommen wir auf die Installation Explodierte Stadt zurück, um das Zeitobjekt in Ahmet Ögüts Werken nachzuweisen. In zahlreichen Texten und Künstlerinterviews wird dieses Werk mit Geschichte in Verbindung gebracht. Der Grund für die Möglichkeit, diese Gebäude, die zu unterschiedlichen geschichtlichen Zeiten (und an verschiedenen Orten) explodiert sind, als eine Einheit zu denken, der Grund, der diese Vernähung möglich macht, findet sich in einer surrealistischen Operation, in der Konflikte nicht unterdrückt werden. Aus der Perspektive der Zeit ist Explodierte Stadt eine historische surrealistische Vernähung. Darum kann sie sich von der Empirie der Soziologie distanzieren und ein dissidentes historisches Narrativ vergegenwärtigen. Hier ist es angebracht, jene Frage zu wiederholen, die angesichts von Alptekins Etymologie von „Bal-kan“ gestellt wurde: Bleibt ein auf Phantasie gegründetes historisches Narrativ vom starken ideologischen Wind verschont, der durch die Geschichtswissenschaft, respektive durch den Historismus bläst? Um diese Frage zu beantworten, gilt es zu begreifen, worin die Dissidenz der surrealistischen Geschichte besteht. In einem seiner Interviews beschreibt Ahmet Ögüt den surrealistischen Charakter im Verhältnis seines Werks zur Geschichte:

„Ich habe versucht eine genau durchdachte Geschichte von Explodierte Stadt zu schaffen, ohne mich im Diskurs des sanktionierten und verbindlichen historischen Narrativs zu verfangen. Ich habe gehofft durch die Erschließung von individuellem Gedächtnis eine soziale Montage vorzulegen.“ (Golonu 2011)

Aufgrund eines Interviews, das Ögüt mit Önder Özengi führte, wird verständlich, dass diese Lösung keiner ad hoc vorgeschlagenen theoretischen Taktik entspricht, um die Spannung zwischen persönlichen Erinnerungen und nicht-persönlichen dissidenten historischen Erzählungen aufzulösen. In diesem Interview entwickelt der Künstler die von ihm verwendeten Konzepte ganz deutlich im Bezug zu ihren politischen Formen, und er definiert die stilistische Differenz von Explodierte Stadt als einen „rhizomatischen Begriff der Geschichte“ (Özengi und Ögüt 2010). Diese Konzeptualisierung stellt selbstverständlich nicht automatisch jenen „rhizomatischen“ oder „phantastischen“ Effekt her, der von allen Kunstwerken eingefordert wird. In demselben Interview wird darauf hingewiesen, dass diese Konzeptualisierung, die der Möglichkeit nach unendliche und völlig widersprüchliche Information beinhalten kann, sich der Aussage jener Geschichte widersetzt, die als in sich autoritär, unterdrückend und einzigartig dargestellt wird. Dabei wird deutlich, dass sich diese Konzeptualisierung als eine Erfahrung zum Ausdruck bringen muss, da sie keiner kognitiven Operation und keinem Konsens unterliegt. Diese Voraussetzung wird von Ögüt klar verstanden. Wenn man eine rhizomatische Konzeptualisierung auf Geschichte anwenden will, wird man auf die Erfahrung als Methode zurückgreifen müssen:

„In den erwähnten Werken habe ich versucht, dem Publikum eine lebendige Erfahrung zu verschaffen. Der Ausgangspunkt dafür waren Fakten aus der jüngsten Geschichte und meine völlig subjektive Perspektive darauf. Ich bin überzeugt davon, dass solche 'Momente von Erfahrung' zu Zonen einer kurzfristigen Freiheit für ein Gedächtnis werden, das im Koma liegt. Kino und Theater ermöglichen gelebte Erfahrung (der Moment des Zusehens) durch den Nachvollzug von Geschichtsfragmenten. Mein Wunsch besteht darin, dieses 'Moment der Erfahrung' in einen 'Raum der Erfahrung' zu verwandeln, damit das Publikum zu einem Teil davon werden kann. Durch die Herstellung eines 'Raums der Erfahrung' kann das Publikum jenes Wissen erforschen, über das es bereits verfügt, nämlich das von Gedächtnis im Koma.“ (Özengi und Ögüt 2010)

Die konzeptuelle Voraussetzung, bei der wir nun angelangt sind, hat einen recht beunruhigenden Aspekt: Wenn der „soziale Surrealismus“, wie bisher gesagt wurde, einer Operation entspricht, durch die Gesellschaft konzeptuell verändert wird, wie wird in dieser Operation die Erfahrung wirksam? Es ist allgemein anerkannt, dass alle künstlerischen Operationen, wie konzeptuell sie auch sein mögen, auf einer oder mehreren besonderen Erfahrungen beruhen. Doch die Differenz des „sozialen Surrealismus“ (als konzeptuelle Operation) zu den anderen künstlerischen Strömungen besteht darin, dass er diese Erfahrungen in eine Konstruktion übersetzt, die er als sein eigenes Absolutes annimmt (vgl. die sechste These). Diese Operation ist der entscheidende Faktor, der den sozialen Surrealismus von surrealistischen Realismus trennt. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass sich diese beiden Operationen in Ögüts Werken parallel ereignen. Werke wie Gemeinsame Belange [Mutual Issues], das versucht, den Surrealismus der Gesellschaft (als einem Experiment) darzustellen, und Werke wie Explodierte Stadt, das wir für durchgängig sozial-surreal halten, existieren nebeneinander und manchmal auch miteinander. Auch wenn Explodierte Stadt auf Erfahrung beruht (insbesondere auf „persönlicher Erinnerung“, wie in den Interviews mit Özengi und Golonu betont wird), so ist doch das Kunstwerk, das wir letztlich sehen, eine vollständig konzeptuelle Konstruktion und Fiktion. Das macht den beunruhigenden Aspekt des ganzen Sachverhaltes aus: In diesen Interpretationen steckt die Einladung, eine konzeptuelle Fiktion zu erleben. Ögüt schlägt ein Oxymoron vor, er beschwört es geradezu herauf: Die Erfahrung eines Konzepts! Diese wechselseitige Blockade beruht darauf, dass die Geschichten der Zeit, die zum Objekt der Installation Explodierte Stadt werden, als auf die Vergangenheit bezogen gedacht sind, während sich das Zeitobjekt dieses Werks jetzt ereignet. Die unglückliche Geschichte der konfliktiven Gebäude in Explodierte Stadt samt der auf diese Vergangenheit bezogene Politik können nicht dafür garantieren, dass jene, die sie erinnern, eine befreiende Erfahrung machen werden. Wohl noch bedeutsamer ist der Umstand, dass die meisten dieser Gebäude ohnedies nicht räumlichen Motiven einer unterdrückten Geschichte entsprechen. Bei den meisten handelt es sich um Meilensteine einer Niederschrift von unterdrückender Geschichte, und dies sowohl im explodierten als auch im nicht explodierten Zustand. Es besteht daher ein stilistisches Problem darin, mit Gebäuden Politik zu machen. Doch weil Explodierte Stadt nicht auf die Vergangenheit bezogen ist, entfernt es diese Gebäude noch weiter von der Erfahrung und Ethik von Geschichte, um sie als eine Unmöglichkeit zu errichten. Ihre Zusammenstellung wird durch das ermöglicht, was Walter Benjamin als „Jetztzeit“ bezeichnet. Wir beziehen uns dabei auf Benjamins XVI These zur Geschichtsphilosophie, die den Historismus im Bezug auf die Vergangenheit vollkommen ablehnt und das Jetzt als radikale Möglichkeit aufzeigt:

„Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten. Denn dieser Begriff definiert eben die Gegenwart, in der er für seine Person Geschichte schreibt. Der Historismus stellt das 'ewige' Bild der Vergangenheit, der historische Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. Er überlässt es anderen, bei der Hure 'Es war einmal' im Bordell des Historismus sich auszugeben. Er bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.“ (Benjamin 1977: 259f.)

Obwohl diese Jetztzeit einer konzeptuellen Ablehnung des Historismus entspricht, so ist sie in technischer Hinsicht der Moderne doch pragmatisch verbunden. Da es hier um Kunst geht, wird es interessant sein nachzuweisen, wie dieser Effekt, oder das, was im allgemeinen Sprachgebrauch als „Praxis“ bezeichnet wird, von der Jetztzeit betroffen ist. Dieser Effekt lässt sich bestimmen, wenn er mithilfe eines Vorschlags in eine Debatte über die Moderne eingespannt wird: Künstlerische Praxis, die der Jetztzeit gegenüber offen ist, begreift die Konflikte um den Status der Moderne als einen Effekt, der in einen konzeptuellen Reichtum mündet. Die Jetztzeit in der Form, in der sie in der Kunst eingesetzt wird, zielt nicht auf das Ende der Geschichte ab, sondern begreift die Zeit, in der wir leben, als jenen Moment, an dem die Konflikte am stärksten entfaltet sind. Wenn wir daher heute über Kunst reden, so sprechen wir über zeitgenössische oder über gegenwärtige Kunst. Mehr noch, wenn wir davon ausgehen, dass die Jetztzeit nicht zwangsläufig eine Beziehung zur Ethik unterhält, so entspricht sie einer Tendenz, die den technologischen, wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Effekten der Moderne gegenüber völlig aufgeschlossen ist. Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ erklärt die Kunstpraxis dieser Jetztzeit genau: Kunst sollte allen möglichen befreienden Effekten der Moderne gegenüber offen sein. Die soziale Konstruktion eines Jetztzeit-Objekts setzt voraus, dass die Vielfalt der Moderne überall und in jedem gelebten Moment gefunden werden kann. Ahmet Ögüts Kunstideologie ist von einer sozialen Konstruktion überdeterminiert, die von der Jetztzeit affiziert wurde. Aufgrund seiner Überdetermination beeinflusst dieser Effekt sowohl die sozial surrealistischen als auch die surrealistisch realistischen Werke des Künstlers. Aus der Perspektive einer geschichtlichen Narration begreift diese soziale Konstruktion den befreienden Effekt der Moderne als den wesentlichen Impuls jener Kunsttheorie und -praxis, die gerade ausgeübt wird.

Hüseyin Alptekins Kunstideologie ist von einem anderen Objekt von Zeit affiziert. Aufgrund dieses anderen Zeiteffekts ist auch die soziale Konstruktion seiner Kunst eine andere. In dieser Konstruktion übt die Moderne einen unterdrückenden Effekt aus: Sie macht Dinge, unterschiedliche Zeitpunkte und -orte einander gleich. Susan Buck-Morss erklärt im Hinblick auf das Kommunistische Manifest: „Alles Feste löst sich in Luft auf“. Das geschieht auf der Grundlage einer Weltsicht, in der die Moderne aus den Straßen gefegt wird zugunsten einer abstrakten und grausamen Einbahn von Fortschritt und Zeitgenossenschaft (vgl. Berman 1983). Um die konzeptuellen Effekte dieser Art von Moderne nachzuweisen, gilt es, in Peter Osbornes Werken nachzulesen, wie er die Beziehungen zwischen Zeit, Avantgarde und Moderne analysiert. Osbornes „Moderne als Übersetzung“ ermöglicht ein Verständnis der Frage, wie die Konstruktion von Gesellschaft in die Kunst einbezogen wird, oder aber, wie Gesellschaft in die Sprache der Kunst eingespannt wird. Das ist die Frage, für die wir von Beginn an nach Antwort gesucht haben. Der wirklich bedeutsame Faktor in der Einbindung der Konstruktion von Gesellschaft in die Kunst ist das zeitliche Objekt der Gesellschaft, und daher kann ein Verständnis dafür, wie sich die Moderne in Philosophie und Kunst übersetzt, auch dabei behilflich sein, diesen Prozess zu begreifen. Osborne beginnt mit der folgenden These:

„Die Moderne als zeitlich-kulturelle Form ist die Affirmation einer besonderen Form der Zeitbestimmung.“ (Osborne 2000: 57f)

Demzufolge ist die Moderne eine Haltung als kulturelle Form, oder eine philosophische Haltung und keine historische Tatsache. Das Gründungsmoment dieser modernen Haltung besteht in einer Operation von Ablehnung und radikaler Transformation, etwa in der Kunst:

„[Die Moderne] erhält ihre konkrete Bedeutung in der verteilenden Einheit ihrer spezifischen Instanzen zu jeder beliebigen Zeit als eine besondere Konstellation von Negation.“ (Osborne 2000: 59)

Diese modernistische These heißt in der Praxis, dass die Form „der besonderen Konstellation einer Negation“ nicht nur in bestimmten Momenten entdeckt werden kann (etwa in Momenten des Übergangs und der radikalen Zeitgenossenschaft), sondern überall und jederzeit. Aus dieser Perspektive affiziert jene philosophische Haltung, die auch Ögüts Zeitobjekt heraufbeschwört, die künstlerische Praxis von Alptekin beinahe als Weltsicht oder als Ethik. Wenn also die moderne Form überall und zu jedem Zeitpunkt angetroffen werden kann, sobald die genannten Bedingungen erfüllt sind, was kann unternommen werden, um sie zu entdecken und in die Konstruktion von Kunst einzubeziehen? Osborne schlägt vor, die Moderne nicht als eine spontane homogene Formation zu denken, sondern als eine heterogene Verteilung unterschiedlicher „Konstellationen“. Durch die Suche nach diesen „Differenzen“ wird eine solche Operation politisch und konzeptuell. Es ist nicht übertrieben, davon zu sprechen, dass Alptekin sich permanent auf dieser Suche befindet. Er sucht stets nach jenen Formen, die diese Momente der Moderne bilden. Daher lässt sich die soziale Konstruktion in Alptekins Werken besser verstehen, wenn man die Heterotopie als Heterochronie begreift. Es geht darum, voneinander getrennte und heterogene Zeiten zusammenzubringen. Daraus folgt, dass der befreiende Effekt des Jetzt durch diese soziale Konstruktion nicht konzeptuell garantiert wird: Die bestehenden Erscheinungen der Moderne sind nicht alle gleichermaßen bedeutsam. Sie gewinnen ihre Bedeutung nach Maßgabe des befreienden Effekts, den ihre potentiellen Narrationen (Konstellationen) beinhalten. Im Sinne einer Zeitlichkeit ließe sich das als „Vollzeit“ bezeichnen.

Obwohl Osborne das Prinzip der Moderne als vollständig historisch-materialistische Operation betrachtet, könnte es auch andere Anwendungen geben. Da dieses Zeitobjekt dem befreienden Effekt der Homogenität gegenüber keine Offenheit besitzt, hat es eine Tendenz zu seltsamen sozialen Konstellationen (Mitsein und Artikulation), die von einer subjektiven Metaphysik individueller „Differenzen“ geprägt sind.

Blanchots Definition einer „uneingestehbaren Gemeinschaft“, deren starker Einfluss auf Alptekin bekannt ist, liefert die beste Beschreibung dieser Tendenz. Dieses Konzept von Gemeinschaft basiert auf den Schriften des Surrealisten Georges Bataille und bezeichnet „die Gemeinschaft von Dingen, die keine Gemeinschaft kennen“, oder es wird definiert als eine Gemeinschaft ohne Einheit, die aus Konstellationen besteht, die durch ihre subjektiven Differenzen identifiziert werden. Die Konstellation einer „uneingestehbaren Gemeinschaft“ wird nicht aufgrund historischer Ablehnung oder Trennung möglich, sondern durch einen Effekt, den Blanchot das „Prinzip der Unvollständigkeit“ nennt. Die Bedeutung dieser Geschichtslosigkeit besteht darin, dass es eine Unangemessenheit und Unvollständigkeit in allem gibt, und dieser Status der Dinge ermöglicht es ihnen, eine befreiende Gelegenheit hervorzubringen. Fragen wir noch einmal danach, wie soziale Konstruktion und Zeitobjekte die künstlerische Praxis affizieren. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass Alptekins sozialer Surrealismus auf einer Methode beruht, die er als „Fakten“ bezeichnet und deren institutionelle und materialistische Grundlagen er nicht verleugnet. Doch Alptekins Praxis ist noch mehr von etwas determiniert, oder eher überdeteterminiert, das er als „heimatlos zuhause“ bezeichnet.

„Casablanca, Halep, Reykjavik, wo auch immer, ich möchte anderswo sein… Irgendwo außerhalb meines eigenen Kontexts… Mehr oder weniger heimatlos zuhause.“ (Alptekin und Muka 2003)

In der Tat, Alptekins Kunstpraxis ist von diesem außerhalb-des-Kontexts-Seins bestimmt. Es ist der Akt eines nicht nur räumlichen, sondern auch zeitlichen, nationalen und tribalen außerhalb-des-Kontexts-Seins, und diese Haltung setzt ein vollständig politisches außerhalb-des-Kontexts-Seins voraus.


Literatur:

Alptekin, H. und Muka, E. (2003), “Being Homeless at Home/Evinde Evsiz Olmak”, art-ist: contemporary art magazine, No: 6.

Alptekin, H. und Morris, M. (2011), “Tabula Zimpara”, in: D. Demir (Hg.), I am Not a Studio Artists – Huseyin Bahri Alptekin, Salt:Istanbul.

Altug, E. und Alptekin, H. (2011), “Conversation with a Man Alone at the bar of the Imaginary Hotel Cosmos Build by Chaos”, in: D. Demir (Hg.), I am Not a Studio Artists – Huseyin Bahri Alptekin, Salt:Istanbul.

Benjamin, Walter (1977): „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. Suhrkamp: Frankfurt a. M.

Berman, Marshall (1993), All That is Solid Melts into Air: the Experience of Modernity. Verso: London.

Boynik, Sezgin (2009), “Difficulty in Making Politics with Buildings”, in: Basak Senova (Hg.) Lapses, IKSV: Istanbul.

Foucault, Michel (2005): Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Suhrkamp: Frankfurt a.M. (übersetzt von Michael Bischoff).

Golonu, B. und Ögut, A. (2011,) “Between the Scaffold and the Ruin”, Filip Magazine, No. 14, http://www.ahmetogut.com/ahmetwebberin.html.

Jameson, Fredrick (1990), “Cognitive Mapping”, in: Nelson, C. and Grossberg, L. (Hg.). Marxism and the Interpretation of Culture, University of Illinois Press.

Krasinski, Jennifer (2010), “Ahmet Ogut: Exploded City”, Bidoun: Arts and Culture from Middle East, no. 21.

Osborne, Peter (2000), Philosophy in Cultural Theory. Routledge: London.

Özengi, Ö. und Ögut, A. (2010), “Memory is not Dead, But is Often Comatose”, Ricochet#4, http://www.ahmetogut.com/ahmetwebonder.html.


Sezgin Boynik

Sezgin Boynik (1977) lebt und arbeitet in Helsinki. Er ist Doktorand an der Jyväskylä University der Social Science Fakultät, wo er an seiner Doktorarbeit mit dem Thema „Cultural Politics of Black Wave in Yugoslavia from 1963 to 1972“ arbeitet. Er hat weiträumig über Punk, die Beziehung zwischen Ästhetik und Politik, über kulturellen Nationalismus, die Situationistische Internationale und jugoslawisches Kino publiziert. Zudem ist er Mitherausgeber der Sammlung „Nationalism and Contemporary Art“ (mit Minna L. Henriksson, Rhizoma & EXIT, Prishtina, 2007), und Co-Autor des Buches „History of Punk and Underground in Turkey, 1978–1999“ (mit Tolga Guldalli, BAS, Istanbul, 2008) Neben akademischen Arbeiten ist er ein aktiver Konzeptkünstler. Zu seinen neueren Artikeln gehören „New Collectives“ (Retracing Images, Brill, Boston & Leiden, 2011), „Cultural Policy of Dusan Makavejev“ (Kino! Journal No. 15, Ljubljana, 2011); „Discontents with Theoretical Practices in Contemporary Art“ (Journal of Visual Art Practice 10:2, London, 2011), „Art of Slogans - in two parts“(TKH no 19 and 20, Belgrade, 2012). Zu seinen künstlerischen Arbeiten zählen „On Lenin: Atlases, Herbariums and Rituals“ (Anders Bergman Galleri, Helsinki, 2012) und das Kunstbuch „Counter-constructivist Model“ (Co-Autor mit M.L. Henriksson, Labyrinth Press, Stockholm, 2012).




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