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Unterschiedliche kuratorische Praktiken in der Türkei: die politische Dimension der Kunstdokumentation

Ilhan Ozan »


Übersetzung aus dem Englischen: Dörte Eliass

Die Ausstellung It was a time of conversation (2012) im SALT versammelte Archivmaterialien von drei Ausstellungen aus der ersten Hälfte der 1990er-Jahre. Vasıf Kortun kuratierte 1993 die Präsentation Number Fifty/ Memory/ Recollection II im building #50 in Akaretler/Istanbul. Kortun und die KünstlerInnen entschieden sich jedoch dafür, die Ausstellung zu schließen, nachdem das Ausstellungsbanner durch ein Poster der türkischen Demokratischen Partei (Demokrat Parti) ersetzt wurde. 1995 wurde GAR, Teil des „Taboos and Art“ Symposiums, das Sanart im Bahnhof Ankara organisierte, nach zwei Tagen von der Bahnhofsverwaltung geschlossen, weil diese glaubte, die Ausstellung demoralisiere die Gesellschaft. 1995 kuratierte Ali Akay Globalization – State, Misery, Violence in Devlet Han – damals das Atelier von Emre Zeytinoğlu und Müşerref Zeytinoğlu, in Beyoğlu, Istanbul. Die Besonderheit dieser drei Ausstellungen besteht in der Tatsache, dass sie neue kuratorische Ansätze einleiteten, indem sie an drei umstrittenen Plätzen außerhalb der zu dieser Zeit konventionellen Kunstorte in der Türkei, wie dem Atatürk Cultural Center, dem Staatlichen Kunst- und Skulpturen Museum und Galerien, stattfanden.

Während diese drei Präsentationen die spezifische Charakteristik einer neuen kuratorischen Praxis in den 1990ern repräsentieren, indem sie die traditionelle Ausstellungsstruktur auf eine letztendlich neue Plattform brachten, weist It was a time of conversation gänzlich in eine neue Richtung zu einer Praxis, die sich derzeit entwickelt. It was a time of conversation bewertet diese Zeitspanne neu, indem sie die Archive dieser Ausstellungen im Sinn einer künstlerischen Praxis sowie das Konzept des Kurators/der Kuratorin nutzt, das sich damals in der Türkei gerade zu entwickeln begann. Diese beiden Formen des Ausstellungsmachens verweisen demgemäß auf die Transformation der künstlerischen Praxis in der Türkei in den letzten beiden Jahrzehnten.

Der Hauptunterschied zwischen diesen beiden künstlerischen Praxen liegt im Übergang des Kunstwerks zur Kunstdokumentation. Boris Groys verweist auf die Beziehung zwischen Kunst und Leben im Hinblick auf die Kunstdokumentation und moderne Politik – was genauer und konzeptionell durch den Begriff der Biopolitik erfasst wird, wie er von verschiedenen DenkerInnen wie Michel Foucault und Giorgio Agamben geprägt wurde. Im traditionellen Sinn wird das Kunstwerk, ob Gemälde, Ready-made oder Installation so verstanden, dass es in sich selbst Kunst verkörpere, indem es diese präsent und sichtbar mache, unabhängig von ihrem Medium. Das Kunstwerk hat immer äußeren Bezug und arbeitet mit/über etwas anderes als sich selbst, wie Objekte in der Realität oder bestimmte politische Subjekte. Es kann sich von Natur aus nicht auf Kunst beziehen, da es selbst Kunst ist. Die Kunstdokumentation hingegen, die auch in der Form eines Gemäldes, eines Ready-mades oder einer Installation existieren kann, präsentiert diese nicht, sondern dokumentiert sie nur. Daher ist Kunstdokumentation definitionsgemäß keine Kunst; sie bezieht sich nur auf Kunst. Kunst ist daher hier nicht präsent und unsichtbar, sie ist versteckt.[i]

Was bezeichnet der Ausdruck der „Kunstdokumentation” dann in einem solchen Kontext? Wie sieht die Beziehung zwischen dem Kunstwerk und der Kunstdokumentation aus? Eine Ausstellung in Form einer Dokumentation kann sich auf Kunstwerke beziehen; ihre Intention kann darin bestehen, die Werke wieder präsent und sichtbar zu machen, indem sie auf besondere Weise an diese erinnert. Es gibt jedoch noch eine andere Seite der Kunstdokumentation, der auch in It was a time of conversation zum Tragen kommt. Eine dokumentarische Kunstausstellung muss nicht notwendigerweise irgendein vergangenes Kunst-Event vergegenwärtigen. Sie will auch kein Kunstwerk produzieren, Kunst erscheint hier also nicht in Form eines Objekts oder einer Performance, die von einem kreativen Akt geformt wird und einen kontemplativen Blick zur Aufnahme erfordert. In diesem Fall wird Kunst selbst zur Praxis von Kunst als solcher. So sind die identifizierenden Merkmale der Kunstdokumentation weder die Schaffung von Präsenz eines vergangenen Kunstwerks noch die Präsentation der Intention eines zukünftigen Werkes. Vielmehr stellt die Dokumentation von Kunst eine Form der Referenz auf eine künstlerische Tätigkeit dar.[ii] So verwendet sie künstlerische Medien innerhalb des Kunstraums, um sich auf das Leben selbst und das künstlerische Dasein zu beziehen, indem es diese auf indirekte Weise darstellt.

Welche Bedeutung hat die Kunstdokumentation in der heutigen künstlerischen Praxis? Hat sie politische Konnotationen? Wenn dies der Fall ist, auf welche Weise? Wenn wir uns erneut die drei Ausstellungen aus den 1990er-Jahren ansehen, erkennen wir, dass sie alle politisch motivierte künstlerische Aktionen waren, und dass die Ausstellungspraxis geprägt war durch einen Dialog, der auf der Zusammenarbeit und dem Austausch von Ideen zwischen KuratorInnen und KünstlerInnern basierte. E. Zeytinoğlu, der Künstler in Globalization – State, Misery, Violence, meinte, dass der Dialog mit dem Besuch Akays in seinem Atelier begonnen habe und sie schließlich zur Diskussion der „Globalisierung“ führte.[iii] Diese Dialoge drehten sich in erster Linie um zwei Hauptziele: den Versuch, Kunst eine interdisziplinäre Form zu geben und die Kritik am Kemalismus.[iv] Diese beiden Aspekte der künstlerischen Intentionen wurden in den kuratorischen Strukturen dieser Ausstellungen reflektiert: Akay kuratierte als Soziologe Globalization – State, Misery, Violence; GAR wurde von einer kollektiven Initiative von KünstlerInnen kuratiert; Kortun kuratierte Number Fifty / Memory/Recollection II als Kunsthistoriker und lud Intellektuelle und AkademikerInnen zu Gesprächen rund um die Ausstellung ein. Der Ausstellungsraum dieser drei Ausstellungen erschien als Territorialisierung solcher „Gespräche und Dialoge”, wie Kortun erwähnte.[v]

Dies ist der Ausgangspunkt von It was a time of conversation. Sehen wir uns eine Arbeit genauer an, „The Memory of the State“ von E. Zeytinoğlu in Number Fifty / Memory/Recollection II, die ungefähr nach 20 Jahren für It was a time of conversation reproduziert wird. Die Arbeit zeigt eine Anzahl schwarzer Aktenordner, die nebeneinander auf ein Regal stehen, das von Neonröhren umgeben ist. Dieses Kunstwerk bezieht sich ausdrücklich auf ein politisches Thema, indem es die Methode des staatlichen Archivierens als äußere Referenz nimmt. Ein solches archivarisches Motiv und politische Thematik lässt an den Begriff Biopolitik im Hinblick auf bürokratische oder technologische Dokumentation denken, darunter die Planung, Berichte und statistische Untersuchungen. Während sich die Arbeit in der früheren Ausstellung tatsächlich auf eine solche Politik bezieht, fungiert sie in der späteren lediglich als ein Dokument, mit dem die gleichen Aspekte in der heutigen Politik aufgezeigt werden sollen. Diesmal setzt die künstlerische Praxis jedoch das gleiche Medium wie die moderne Politik ein: die Dokumentation. So bezieht sich die Kunst auf das aktuelle Leben auf andere Weise als damals, als das Kunstwerk früheres Leben in der Kunstgeschichte thematisierte. Die Dokumentation bekommt hier eine entscheidende Bedeutung für die Kunst und „producing the life of the living as such: the documentation inscribes the existence of an object in history, gives a lifespan to this existence, and gives the object life as such – independently of whether this object was ‘originally’ living or artificial.”[vi]

Hier gelangen wir zur Diskussion der Begriffe von Original und Kopie, oder Produktion und Reproduktion. Dieses Thema ist jedoch bereits Gegenstand langer Diskussionen und problematischer, denn die Arbeit von Zeytinoğlu ist tatsächlich ein Ready-made, aber lassen wir dies beiseite. Walter Benjamin diskutiert in seinem berühmten Essay zum Verlust der Aura, die dem Original innewohnt, nicht das Verschwinden von Originalität, sondern ihren Ersatz.[vii] Heute befinden wir uns weit jenseits der „retinalen Kunst” und der materielle Unterschied zwischen einem Original und einer Kopie ist vor einer langen Zeit verschwunden. Dieser Unterschied basiert vielmehr darin, wie gewisse Dinge in einen Kontext gesetzt werden, der von Erzählung bestimmt wird. Daher besteht das entscheidende Merkmal der Kunstdokumentation in ihrer diskursiven Dimension, die eine Kopie oder Reproduktion durch ihre Dokumentation zu einem Original machen kann, indem die Bedingungen ihrer Entstehung erzählt werden.

So wird die Diskursivität der Kunstdokumentation zum besonderen Charakteristikum der künstlerischen Praxis bei der Herstellung einer Beziehung zwischen Kunst und Leben und dem Leben heute; allerdings in einem völlig neuen Kontext. Das Potenzial der Diskursivität beim Ausstellungsmachen könnte zu einer Form der kritischen Untersuchung der Funktionsbedingungen und Prozesse des sozialen und politischen Lebens und seiner Wertesysteme werden und als solche neues Wissen und Bedeutung in der zeitgenössischen Kunst produzieren. In einem Interview sagt Antonio Negri: […] „there is continuously giving meaning to artistic experience and considering an event or fact at the historical level and clarifying, with such obviousness, what its meaning is – that is what art is all about.”[viii] Die Erfindung von Bedeutung und neue Wege der Interpretation über die Dokumentation im „Feld der Exteriorität“ erheben die Materialien möglicherweise in den Status von Objekten des Diskurses.

Als letzten Aspekt möchte ich den Begriff des Archivs aufgreifen. SALT, als Modell einer Institution, präsentierte It was a time of conversation in der Abteilung ,Open Archive‘, die Ausstellungen archivarischer Dokumentation präsentiert. Auch wenn der Begriff des „Archivs“ heutzutage recht umstritten ist, wäre es irreführend, ihn lediglich auf die Gegenwart und die gesammelten Objekte zu reduzieren. Eine weitere Frage ist sicher, wann ein Archiv beginnt und endet, aber es ist eine historische Tatsache, dass das Archiv eine enge Beziehung mit der Gegenwart und Zukunft genauso wie mit der Produktion von Wissen unterhält. Wie Derrida sagt, „the Archivization produces as much as it records the event.”[ix] Das Archiv wird von sozialen, politischen und technologischen Kräften geformt.

Das Archiv ist nicht „die Bibliothek aller Bibliotheken“, wie Foucault argumentiert. Er meint außerdem, dass es auch nicht die Summe aller Texte sei, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit bewahrt habe.”[x] Foucault analysiert das Archiv über „das System der Diskursivität”, das die Möglichkeit dessen etabliert, was gesagt werden kann. Er begreift das Archiv als diskursive Formationen, die ihre eigenen Wahrheitskriterien definieren. Dieser Begriff unterstreicht die Beziehung zwischen Wissen und Macht über das Archiv. Indem also Archive für die Öffentlichkeit geöffnet werden und die Archivierung als unendlicher Prozess gesehen wird, wird auch der Zugang zu verschiedenen Formen von Wissen ermöglicht; beides sind wichtige Aspekte der Idee eines offenen Archivs.

Die Praxis der Kunstdokumentation, wie sie von It was a time of conversation für das dokumentarische Modell einer Ausstellung und einer Kultur und für das Modell einer Kunstinstitution wie durch SALT repräsentiert wird – sie selbst sagt über ihren Auftrag, sie wolle „kritische und zeitgemäße Themen in der visuellen und materiellen Kultur erkunden und innovative Programme für Forschung und experimentelles Denken pflegen”[xi] – verweisen in der Türkei auf eine Transformation von den frühen 1990er-Jahren bis in die Gegenwart, indem neue Wege des Ausstellungsmachens vorgeschlagen werden. Im Rahmen dieser Transformation wurde das Konzept des unabhängigen Kurators/der Kuratorin vom institutionellen Kuratieren heute ersetzt. Die Diskursivität der künstlerischen Praxis wurde von der Institutionalisierung übernommen, die mit einer anderen Art der kollektiven Arbeit als in den 1990er-Jahren arbeitet, auch wenn sie andere mögliche Formen des Ausstellungsmachens nicht ignoriert. Wie auch in It was a time of conversation gezeigt, kann Diskursivität also Reproduktion zu Produktion wandeln und umgekehrt. Die Praxis der Kunstdokumentation setzt die gleichen Werkzeuge in Bezug auf die aktuelle Politik der modernen Gesellschaft ein. Diese Praxis könnte Strategien des Widerstands und das Einschreiben eines sozialen Gedächtnisses initiieren, das auch durch das Archiv gebildet wird.


http://www.saltonline.org/en/anasayfa


[i] Groys, Boris, Art Power, MIT Press, USA, 2008.

[ii] Groys, Boris, Art Power, MIT Press, USA, 2008.

[iii] Zeytinoğlu Emre, Conversation: Ali Akay, Selim Birsel, Vasıf Kortun and Emre Zeytinoğlu, 03.03.2012, Salt Galata.

[iv] Akay, Ali & Kortun, Vasıf, Conversation: Ali Akay, Selim Birsel, Vasıf Kortun and Emre Zeytinoğlu, 03.03.2012, Salt Galata.

[v] Kortun, Vasıf, Conversation: Ali Akay, Selim Birsel, Vasıf Kortun and Emre Zeytinoğlu, 03.03.2012, Salt Galata.

[vi] Groys, Boris, Art Power, MIT Press, USA, 2008.

[vii] Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, deutsche Fassung 1939, in: ders., Gesammelte Schriften Band I, Frankfurt am Main 1980.

[viii] Negri, Antonio, A Conversation with Antonio Negri; Community Art: The Politics of Trespassing, herausgegeben von Paul De Bruyne and Pascal Gielen, Valiz/Antennae Series, Amsterdam, 2011.

[ix] Derrida, Jacques, Archive Fever: A Freudian Impression, übers. v. Eric Prenowitz, University of Chicago Press, Chicago, 1996.

[x] Foucault, Michel, The Archaeology of Knowledge, übers. v. A. M. Sheridan Smith, Tavistock Publications, London, 1972.

[xi] http://saltonline.org/en/#!/en/43/about-salt_break/ (12.04.2013)


İlhan Ozan

İlhan Ozan lebt und arbeitet in İstanbul. Nachdem er sein Grundstudium im Soziologie-Department der Marmara-Universität absolviert hatte, schrieb er seine Diplomarbeit über Kunst und Politk im Rahmen seines Master-Studiengangs in Philosophie und Sozialphilosophie an der İstanbul Bilgi University, wo er 2012 sein Studium abschloss. Seine akademischen Forschungen umfassen unter anderem die Philosophie der Sozialwissenschaften, soziale Veränderung und Kultur und philosophische Perspektiven über Kunst und Ästhetik. Er interessiert sich vor allem für die geschichtliche Konstitution und Transformation von Kunst, in der aus nominalistischer Perspektive forscht.




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